Hauptseite: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Geschichts-Wiki
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 1: Zeile 1:
'''Herzlich Willkommen im Geschichts-Wiki des Paritätischen in Bayern!'''
'''Herzlich Willkommen im Geschichts-Wiki des Paritätischen in Bayern!'''


Über ein Jahr lang hat der Paritätische in Bayern seine 100-jährige Geschichte von Historiker*innen erforschen lassen. Sie haben historische Dokumente gesichtet, Fachliteratur konsultiert und mit vielen Zeitzeug*innen gesprochen. Dies ist ein Vorgeschmack auf die Ergebnisse des Projekts.  
Über ein Jahr lang hat der Paritätische in Bayern seine 100-jährige Geschichte von externen Historiker*innen der Agentur Neumann & Kamp Historische Projekte erforschen lassen. Sie haben Archive aufgesucht, historische Dokumente und Fachliteratur gesichtet und mit vielen Zeitzeug*innen gesprochen. Dieses Wiki ist das Ergebnis des Projekts.  


Tauchen Sie ein in die ersten gut 20 Jahre der Verbandsgeschichte und lernen Sie einige der Menschen kennen, die den Paritätischen in Bayern während dieser Zeit geprägt haben.  
Auf dieser Seite finden Sie eine chronologische Zusammenfassung der 100-jährigen Geschichte des Verbands. Die blau hervorgehobenen Links im Text führen zu thematischen Schwerpunktseiten. Hier können Sie mehr über verschiedene Aspekte der Verbandsgeschichte erfahren: Wie sind bestimmte Schwerpunkte der Verbandsarbeit entstanden? Was musste passieren, damit sich der Verband zu dem entwickeln konnte, was er heute ist? Die Schwerpunktseiten geben jeweils Einblick in einen bestimmten Moment in der Geschichte des Paritätischen in Bayern.  


Die blau hervorgehobenen Links im Text führen zu Schwerpunktseiten, auf denen Sie mehr über die verschiedenen Themen und Personen aus der 100-jährigen Geschichte des Paritätischen in Bayern erfahren können.
Unterhalb der chronologischen Darstellung finden Sie eine Personengalerie, die unterschiedliche Menschen aus der 100-jährigen Geschichte des Verbands vorstellt. Die Porträts zeigen, wie vielfältig die Wege sind, die zum Paritätischen in Bayern führen.  


Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre!
Alle Seiten des Wikis sind an passenden Stellen miteinander verlinkt. Folgen Sie Ihrer Neugier und stöbern Sie durch die Verbandsgeschichte! Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre.


==Die Geschichte im Überblick==
==Meilensteine der Geschichte des Paritätischen in Bayern==
===Gründungsjahre===
===Vor der Verbandsgründung: Frauen engagieren sich gegen die herrschende Not===
Der Paritätische in Bayern wird 1924 als [[Raus aus dem „Mauerblümchendasein“: Die Gründung des Paritätischen in Bayern|<i>Paritätischer Wohlfahrtsverband Bayern</i>]] gegründet. Ausgangspunkt der Gründung ist [[Ein Netzwerk engagierter Frauen: Der Verein für Fraueninteressen und das Umfeld des Paritätischen in Bayern|die bürgerliche Frauenbewegung]]. Engagierte Frauen wie Gründerin [[Der „Mittelpunkt der paritätischen Wohlfahrtspflege in München und in Bayern“: Luise Kiesselbach|Luise Kiesselbach]], [[Die treibende Kraft: Anna Heim-Pohlmann|Anna Heim-Pohlmann]], [[Eine Ausnahmesenatorin: Hilde Obermair-Schoch|Hilde Obermair-Schoch]] und [[„Meisterin der Jugendhilfe“ und Täterin: Elisabeth Bamberger|Elisabeth Bamberger]] prägen den Verband in seinen ersten Jahren. Sie alle sind Mitglieder des <i>Vereins für Fraueninteressen</i>. Verein und Verband bleiben lange eng miteinander verwoben.


Der Paritätische in Bayern soll dazu dienen, die freie und konfessionell wie politisch unabhängige Wohlfahrtspflege zu stärken. Er bringt aber auch eigene Initiativen hervor: So entsteht Ende der 1920er Jahre eine von München ausgehende [[„Dem Alter zum Schutze, der Jugend zu Nutze“: Das erste Projekt des Paritätischen in Bayern|Bewegung zur Bekämpfung der „Altersnot“]].
Keimzelle des Paritätischen in Bayern ist die [[Ein Netzwerk engagierter Frauen: Der Verein für Fraueninteressen und das Umfeld des Paritätischen in Bayern|bürgerliche Frauenbewegung]]. Wohlhabende Frauen schließen sich zur Zeit des deutschen Kaiserreichs zusammen, um Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen zu schaffen. In diesem Kontext entsteht in München der ''Verein für Fraueninteressen''. Er setzt sich dafür ein, dass Mädchen und Frauen zukünftig die gleichen Bildungschancen erhalten wie Jungen und Männer. Durch Vorträge, Bildungsangebote und soziale Projekte unterstützt der Verein Frauen dabei, unabhängig zu werden und sich gesellschaftlich zu engagieren.  


===Der Nationalsozialismus und seine Folgen===
Nach dem frühen Tod ihres Mannes findet [[Der „Mittelpunkt der paritätischen Wohlfahrtspflege in München und in Bayern“: Luise Kiesselbach|Luise Kiesselbach]] in sozialer Arbeit eine neue Lebensaufgabe. 1912 wird sie Vorsitzende des ''Vereins für Fraueninteressen'' in München. Sie setzt sich unermüdlich für soziale Initiativen ein. Das ist bald wichtiger denn je, denn der Erste Weltkrieg und die Wirtschaftskrisen der 1920er Jahre bringen viele Menschen in eine prekäre Lebenssituation.


Mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten 1933 bricht auch für die deutsche Wohlfahrtspflege eine neue Zeit an: Sie wird mithilfe der [[Vom Paritätischen Wohlfahrtsverband zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt|Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt]] neu organisiert. In ihr geht schließlich auch der Paritätische in Bayern auf. Eine zentrale Figur ist dabei [[Der letzte Verbandsvorsitzende vor der Auflösung: Albrecht Freiherr von Pechmann|Albrecht Freiherr von Pechmann]]. Als Vorsitzender des Verbands organisiert er die sogenannte Gleichschaltung. Einige [[Menschen, Organisationen und Einrichtungen des Paritätischen in Bayern während der Zeit des Nationalsozialismus|Menschen und Organisationen]], die bisher im Rahmen des Paritätischen in Bayern soziale Arbeit geleistet haben, müssen diese jetzt aufgeben. Einige Personen können innerhalb der neuen Verhältnisse ihre Karriere vorantreiben.
Zu Beginn der 1920er Jahre ist die Fürsorge durch verschiedene Gesetze, die in den vorangegangenen Jahren überstürzt erlassen wurden, unübersichtlich organisiert. Doch viele Menschen brauchen Hilfe. Bald kommt es daher zu einer Reorganisation des Fürsorgewesens. Ein wesentlicher Baustein der Reformen ist die Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht, die am 13. Februar 1924 beschlossen wird. Dieses und andere neue Gesetze stärken die freie Wohlfahrtspflege. Ihre Spitzenverbände bekommen jetzt finanzielle Zuschüsse, die sie an ihre Mitgliedsorganisationen verteilen können. Problem hierbei: Wer keinem Dachverband angehört, geht leer aus. Davon sind vor allem die politisch und kirchlich unabhängigen Einrichtungen und Vereine bedroht. Luise Kiesselbach hat das Problem frühzeitig erkannt: Schon 1922 hat sie eine „Arbeitsgemeinschaft paritätischer Wohlfahrtsanstalten, Einrichtungen und Vereine“ im Stadtbund Münchner Frauenvereine gegründet, um die unabhängige Wohlfahrtspflege in München zu stärken.  


Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs beginnt der [[„Jetzt gibt es keine Fraueninteressen, jetzt gibt es nur eine gemeinsame Not“: Die Wiedergründung des Paritätischen in Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg|Wiederaufbau des Verbands]]. Wieder sind es Frauen wie [[Die treibende Kraft: Anna Heim-Pohlmann|Anna Heim-Pohlmann]], [[Eine Ausnahmesenatorin: Hilde Obermair-Schoch|Hilde Obermair-Schoch]] und [[„Meisterin der Jugendhilfe“ und Täterin: Elisabeth Bamberger|Elisabeth Bamberger]], die den Paritätischen in Bayern ein zweites Mal gründen. Die amerikanische Militärregierung unterstützt ihre Bemühungen. Freie und unabhängige Wohlfahrtspflege wird in der Nachkriegszeit dringend gebraucht. Die von [[Die Gründerin der Münchner Mütterschule: Lotte Geppert|Lotte Geppert]] gegründete <i>Münchner Mütterschule</i> ist ein Beispiel für die neuen Konzepte, die jetzt aus der Not heraus im Umfeld des Verbands entstehen.
===1924: Der Paritätische in Bayern entsteht===
 
Vom 11. bis 14. Juni 1924 veranstaltet der Hauptverband Bayerischer Frauenvereine seinen 10. Bayerischen Frauentag in München. Vorsitzende des Hauptverbands ist zu dieser Zeit Luise Kiesselbach. Bei der Tagung wird beschlossen, einen [[Raus aus dem „Mauerblümchendasein“: Die Gründung des Paritätischen in Bayern|„Paritätischen Wohlfahrtsverband Bayern“]] zu gründen. Er steht nicht nur Frauenvereinen offen. Alle paritätisch arbeitenden Organisationen und Einrichtungen sind dazu eingeladen, Teil des neuen Verbands zu werden. Dafür wirbt Luise Kiesselbach in den folgenden Monaten. Sie wird in dieser Zeit zu einer Zentralgestalt des Paritätischen in Bayern und auch dessen erste Vorsitzende.
 
Altersarmut ist ein auch in den 1920er Jahren bereits oft übersehenes Problemfeld. Von ihr sind alleinstehende Frauen aus der Mittelschicht besonders oft betroffen. Der Paritätische in Bayern beginnt, darauf aufmerksam zu machen, die Bekämpfung der [[„Dem Alter zum Schutze, der Jugend zu Nutze“: Das erste Projekt des Paritätischen in Bayern|„Altersnot“]] wird bald zum ersten Arbeitsschwerpunkt des Verbands.
 
Für Luise Kiesselbach ist es wichtig, dass die Mitgliedsorganisationen des Paritätischen auf einer vom Gedanken der „paritas“, der Gleichheit und Gleichwertigkeit, getragenen Haltung zusammenarbeiteten. Sozialpolitisch setzt sie sich dafür ein, Armut zu bekämpfen, um die soziale Lebenslage der Menschen zu verbessern. Ebenso soll dieser Gedanke sich im Tätigkeitsprofil des Verbands widerspiegeln: Die soziale Hilfe, die der Verband mit seinen Mitgliedern leisten will, ist dem Leitbild verpflichtet, dass jeder Mensch gleichwertig ist und auch entsprechend behandelt werden muss.
 
Am 27. Januar 1929 stirbt Luise Kiesselbach unerwartet. Den Verbandsvorsitz übernimmt daraufhin der bekannte Rechtsanwalt Dr. Christoph Schramm.
 
===Auflösung des Verbands in der Zeit des Nationalsozialismus===
 
Zu Beginn der 1930er Jahre bestimmt die Weltwirtschaftskrise das Leben der Menschen. Die freien Wohlfahrtsverbände leiden darunter, dass sie keine Kredite und öffentlichen Zuschüsse mehr bekommen. Gleichzeitig sind immer mehr Menschen auf Unterstützung angewiesen. 1932 legt Christoph Schramm nach knapp drei Jahren den Verbandsvorsitz nieder. Sein Nachfolger wird Oberst a. D. [[Der letzte Verbandsvorsitzende vor der Auflösung: Albrecht Freiherr von Pechmann|Albrecht Freiherr von Pechmann]], der auf eine lange Militärkarriere zurückblicken kann. Wie genau es zu dieser Wahl kommt, wird sich später nicht mehr rekonstruieren lassen, eine Verbindung zur paritätischen Wohlfahrtspflege hat er den vorhandenen Quellen nach zu schließen nicht.
 
Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die Umgestaltung des Landes nach nationalsozialistischen Prinzipien nimmt Fahrt auf. Mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten bricht auch für die deutsche Wohlfahrtspflege eine neue Zeit an. Am 29. April beschließt der reichsweite Dachverband des Paritätischen in Bayern, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband in Berlin, dass der Verband „seine paritätische Wohlfahrtsarbeit im Sinne der nationalen Erhebung weiter verfolgen soll“, also im Sinne des Nationalsozialismus. Der Vorsitzende des Gesamtverbands, der jüdische Kinderarzt Leo Langstein, tritt daraufhin zurück. Sein Nachfolger wird der bayerische Landesvorsitzende Albrecht von Pechmann.
 
Wenige Monate später steht fest, dass der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband im Zuge der Gleichschaltung mitsamt aller seiner Landesverbände von der [[Vom Paritätischen Wohlfahrtsverband zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt|Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV)]] übernommen wird. Die Landesverbände bekommen die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Mitgliedsorganisationen sich ruhig verhalten und die Entwicklung hinnehmen. Widerstand gegen die Gleichschaltungspolitik ist nicht bekannt.
 
Der Paritätische in Bayern fordert seine Mitgliedsorganisationen im Zuge dieser Bestrebungen dazu auf, alle „Mitarbeiter nicht-arischer Abstammung in bevorzugten Stellungen“ zu entlassen. Einige [[Menschen, Organisationen und Einrichtungen des Paritätischen in Bayern während der Zeit des Nationalsozialismus|Menschen und Organisationen]], die bisher im Rahmen des Paritätischen in Bayern soziale Arbeit geleistet haben, müssen diese jetzt aufgeben: Jüdinnen und Juden werden gezielt aus dem Verband gedrängt, Selbsthilfestrukturen bald zerschlagen.
 
Im Herbst 1933 bekommt der Paritätische reichsweit eine neue Satzung. Er ist jetzt offiziell Teil der NSV und streng hierarchisch organisiert. Wer Mitglied werden möchte, muss nachweisen, dass er „nur im Sinne der national-sozialistischen Weltanschauung arbeiten wird.“
 
Am 30. Mai 1934 wird die endgültige Auflösung des Paritätischen angeordnet. Viele seiner Mitgliedsorganisationen bestehen unter dem Dach der NSV weiter, andere werden aufgelöst.
 
===Wiedergründung nach 1945===
 
Der Verein für Fraueninteressen übersteht die Zeit des Nationalsozialismus, wenngleich er seine Einrichtungen an die NSV verliert. So kann der Paritätische in Bayern direkt [[„Jetzt gibt es keine Fraueninteressen, jetzt gibt es nur eine gemeinsame Not“: Die Wiedergründung des Paritätischen in Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg|nach dem Zweiten Weltkrieg reaktiviert]] werden. Am 30. Juli 1948 kann der Paritätische in Bayern offiziell wiedergegründet werden. Er hat zu Beginn 20 Mitgliedsorganisationen und wird von der US-amerikanischen Militärregierung unterstützt. Bis in die 1950er Jahre kümmert sich der Verband vor allem um die Behebung der unmittelbaren Nachkriegsfolgen und die Versorgung von [[Unterstützung für Flüchtlinge und Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg|Flüchtlingen und Vertriebenen]]. Auch die Linderung der [[„Jugendnot“ und Heimerziehung im Paritätischen in Bayern|„Jugendnot“]] wird jetzt zu einem wichtigen Themenfeld für den Paritätischen in Bayern.
 
===Der Verband öffnet sich neuen Themenfeldern===
 
Nachdem die unmittelbare Nachkriegsnot überstanden ist, beginnt für den Paritätischen in Bayern eine Zeit des Wachstums. Immer mehr Menschen, die besondere Lebenssituationen teilen, schließen sich zusammen, um sich gemeinsam für ihre Interessen einzusetzen. Den Anfang machen Eltern von Kindern mit [[Für ein selbstbestimmtes Leben: Menschen mit Behinderungen verändern den Paritätischen in Bayern|Behinderungen]]. Ab den 1950er Jahren schließen sie sich vermehrt zusammen. 1958 entsteht so zum Beispiel der ''Verein zur Förderung spastisch gelähmter Kinder'' in Augsburg, der bald Mitglied im Paritätischen in Bayern wird. Das ist etwas Besonderes, denn seitdem der Nationalsozialismus das Prinzip der Selbsthilfe systematisch bekämpft hat, gibt es sie auch im Paritätischen in Bayern nicht mehr. Das wird sich bald vollkommen ändern, als im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen eine neue [[Eine wechselvolle Geschichte: Selbsthilfe im Paritätischen in Bayern|Selbsthilfebewegung]] entsteht.
 
1964 wird [[Für mehr Gemeinsinn und Sichtbarkeit: Bernhard Uffrecht|Bernhard Uffrecht]] Geschäftsführer des Paritätischen in Bayern. Er wird den Verband über viele Jahre prägen. Mit ihm findet der Paritätische in Bayern bald mehr und mehr zu seinem ganz eigenen Profil. Der Paritätische in Bayern eröffnet Sozialstationen, die ambulante Pflege anbieten, und startet das Projekt ''Essen auf Rädern''. Dieses Modell, das Mahlzeiten an Menschen liefert, die sich nicht selbst versorgen können, wird bald auf viele Städte in Bayern ausgeweitet. Bernhard Uffrecht setzt sich persönlich sehr für den Auf- und Ausbau neuer ambulanter Angebote ein. Besonders am Herzen liegt ihm die Förderung sogenannter [[„Nachbarn helfen sich selbst“: Kreative Lösungen für neue Wohn- und Lebensverhältnisse|Nachbarschaftshilfen]]. Bis 1977 werden in Bayern 44 Nachbarschaftshilfen entstehen, die über 120.000 Stunden nachbarschaftliche Hilfe im Jahr leisten. Die Hilfe zur Selbsthilfe wird wieder zu einem leitenden Prinzip des Paritätischen in Bayern.
 
===Soziale Arbeit jenseits traditioneller Strukturen===
 
Der Paritätische in Bayern öffnet sich jetzt besonders für Zusammenschlüsse von marginalisierten Menschen, die von der staatlichen Sozialpolitik im traditionell geprägten Bayern kaum beachtet werden. Die Unterstützung der sogenannten [[Für ein selbstbestimmtes Leben: Menschen mit Behinderungen verändern den Paritätischen in Bayern|Behindertenbewegung]], die sich aus den Initiativen für Kinder mit Beeinträchtigungen entwickelt hat, ist nur der Anfang.
 
In den 1970er Jahren hält die [[Schutzräume statt Vanillepudding: Die Neue Frauenbewegung im Paritätischen in Bayern|Neue Frauenbewegung]] Einzug in den Paritätischen in Bayern. Frauenhäuser werden gegründet, um Frauen Schutz vor Gewalt zu bieten. Dabei unterstützt der Verband auch autonome Frauenhäuser, obwohl sie ansonsten in Politik und Gesellschaft auf großen Widerstand stoßen.
 
Zur selben Zeit entstehen als Antwort auf fehlende Betreuungsangebote [[Eltern ergreifen die Initiative: Neue Formen der Kinderbetreuung erobern den Paritätischen in Bayern|Elterninitiativen]], die alternative Formen der Kinderbetreuung ausprobieren und selbst organisieren. Auch das ermöglicht es vielen Frauen, ein selbstbestimmteres Leben zu führen, das nicht allein durch ihre Rolle als Mutter geprägt ist. Ab 1980 gibt es eine eigene Fachreferentin für Frauen und Familie im Paritätischen in Bayern. Der Verband fördert vielfältige Projekte von und für Frauen und Familien und unterstützt ihre politischen Forderungen.
 
Ende der 1970er Jahre macht der Paritätische in Bayern seine ersten Erfahrungen mit der Betreuung sogenannter Ausländer: Er übernimmt die Trägerschaft einer Einrichtung für [[„Grüß Gott, liebe Freunde aus Vietnam“ – Eine neue Aufgabe für den Paritätischen in Bayern|Geflüchtete aus Vietnam]]. Auch das führt zur Einrichtung eines neuen Fachreferats im Verband.
 
In den 1980er Jahren findet die [[Ein steiniger Weg zur Akzeptanz: Queerer Aktivismus im Paritätischen in Bayern|Schwulenbewegung]] ihren Weg in den Paritätischen in Bayern. Explizite Organisationen von und für Homosexuelle hat der Verband zuvor lange nicht aufnehmen wollen. Die ab Mitte der 1980er entstehenden Aids-Hilfen kümmern sich um alle von der Krankheit betroffenen Menschen, darunter Homosexuelle, aber auch Drogenabhängige und Prostituierte. Das eröffnet ihnen den Weg in den Paritätischen in Bayern und ermöglicht es, dass sich der Verband langfristig auch für explizite LGBTIQ-Organisationen öffnet.
 
Durch die Unterstützung neuer sozialer Bewegungen und die Förderung der Selbsthilfe entwickelt sich der Paritätische in Bayern in dieser Zeit zu einem Verband, der auf neue Weise Vielfalt und gesellschaftliches Engagement fördert. Dazu gehört auch, dass der Paritätische in Bayern zu einem wichtigen Unterstützer des [[Ein besonderes Nachwuchsprogramm: Das Freiwillige Soziale Jahr im Paritätischen in Bayern|Freiwilligen Sozialen Jahres]] wird.
 
===Neue Verbandsstrukturen in den 2000er Jahren===
 
In den folgenden Jahren durchläuft der Paritätische in Bayern Veränderungen und Anpassungen, die durch interne Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen herbeigeführt werden. Ein Wendepunkt ist der Ruhestand von Geschäftsführer [[Für mehr Gemeinsinn und Sichtbarkeit: Bernhard Uffrecht|Bernhard Uffrecht]] 1988. Mit ihm verlässt eine Person den Verband, die ihn jahrelang geprägt und ihm nach innen und außen Profil verliehen hat.
 
Seit der Gründung des Verbands in den 1920er Jahren haben Frauen im Paritätischen in Bayern entscheidende Arbeit geleistet. Nach [[Der „Mittelpunkt der paritätischen Wohlfahrtspflege in München und in Bayern“: Luise Kiesselbach|Luise Kiesselbach]] gab es jedoch keine Frau mehr an der Spitze des Verbands. Mit der Einsetzung einer Referentin für Frauen und Familie hat auch eine systematische Untersuchung der [[„Vom frauenbewegten Sozialverband zum männergeführten Frauenbetrieb“? Die Debatte um Gleichstellung im Paritätischen in Bayern|Geschlechterverhältnisse im Paritätischen in Bayern]] begonnen, die 1994 in einer ausführlichen Studie veröffentlicht wird. Diese Studie zeigt gravierende Ungleichheiten. Die Ergebnisse der Studie führen zu konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Geschlechtergerechtigkeit im Verband. Der Paritätische in Bayern setzt das Konzept des Gender Mainstreamings um. Durch diese Strategie wird Geschlechtergerechtigkeit bald bei allen Entscheidungen und Maßnahmen des Verbands berücksichtigt.
 
In den 1990er Jahren durchläuft der Verband zugleich eine [[Ein Einschnitt im „kulturellen Gedächtnis der Organisation“: Die Krise und Umstrukturierung des Paritätischen in Bayern|finanzielle und strukturelle Krise]]. Er ist in den vergangenen Jahrzehnten stark gewachsen und muss seine Strukturen dringend diesen neuen Umständen anpassen. Umfassende Umstrukturierungen können den Paritätischen in Bayern stabilisieren. Der Verband führt ein strenges Finanzcontrolling ein und wandelt eigene Einrichtungen in GmbHs um. Ab den 2000er Jahren trägt ein hauptamtlicher Vorstand die operative Verantwortung für den Verband: Je ein Vorstand für Verbands- und Sozialpolitik sowie Wirtschaft und Finanzen fungieren gleichberechtigt als Doppelspitze.. Kontrolliert werden die beiden Vorstände von einem ehrenamtlichen Verbandsrat. Im Lauf der 2000er Jahre kann der Verband, neben seiner gestärkten Position als Anbieter sozialer Dienstleistungen, auch wieder stärker sozialpoltisch wirken.  Neben dem Thema Gleichstellung von Frauen und Männern, wird die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in neuer Weise zu einem Schwerpunkt der Verbandsarbeit. Die Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention 2006 ist ein wichtiger Meilenstein. Der Paritätische in Bayern engagiert sich jetzt in neuem Maß in der Eingliederungshilfe. Die große Verbandskrise ist überwunden, die Arbeit kann mit vollem Elan weitergeführt werden.
 
===2010er Jahre bis heute: Vielfalt, Toleranz und Offenheit===
 
In den 2010er Jahren kommen gesellschaftliche Herausforderungen auf, denen der Paritätische in Bayern jetzt mit neuer Kraft begegnen kann: Als ab 2014 immer mehr [[Der Paritätische in Bayern in der „Flüchtlingskrise“|Geflüchtete]] auf der Suche nach Sicherheit nach Bayern kommen, packen der Paritätische in Bayern und seine Mitgliedsorganisationen entschlossen mit an. Angetrieben durch die Klimaschutzbewegung beginnt der Verband jetzt außerdem, ökologische Nachhaltigkeit als Teil seiner sozialen Verantwortung zu verstehen. Die Verbindung von sozialer und ökologischer Gerechtigkeit steht dabei im Mittelpunkt. Die Forderung nach einer [[Ein neuer Schwerpunkt: Gemeinsam gegen die Klimakrise|sozialökologischen Transformation]] wird zu einem neuen Schwerpunkt der Verbandsarbeit.
 
Auch in den etablierten Arbeitsschwerpunkten des Verbands steht die Entwicklung nicht still. Aus der Unterstützung für queere Menschen folgt, dass das Referat Frauen 2021 um die Themen Gleichstellung und LGBTIQ erweitert wird. Zu Beginn der 2020er Jahre stehen die Mitgliedsorganisationen des Paritätischen in Bayern vor zwei großen Herausforderungen: Die Finanzierungsbedingungen für soziale Träger sind schwierig, Aussicht auf Besserung gibt es nicht. Die Arbeits- und Fachkräftelücke führt außerdem dazu, dass soziale Angebote nicht mehr aufrechterhalten werden können. Der Paritätische in Bayern sieht es damals wie heute als seine Verantwortung, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass seine Mitgliedsorganisationen gut arbeiten können. Dazu gehört auch, sich als Verband zu überlegen, wie er die Versorgung weiterhin auf einem hohen Niveau in der Fläche sicherstellen kann. Damit von der Politik die finanzpolitischen Rahmenbedingungen hierfür geschaffen werden, will der Paritätische in Bayern als Verband auch in Zukunft aufzeigen, dass ein funktionierender Sozialstaat mit einem stabilen Netz sozialer Einrichtungen einen Grundpfeiler unserer Demokratie bildet.


==Menschen aus 100 Jahren Verbandsgeschichte==
==Menschen aus 100 Jahren Verbandsgeschichte==
Zeile 30: Zeile 89:
Datei:1929 Pechmann Stadtkommandant Ausschnitt Detail.jpg|link=Der vorerst letzte Verbandsvorsitzende: Albrecht Freiherr von Pechmann|[[Der letzte Verbandsvorsitzende vor der Auflösung: Albrecht Freiherr von Pechmann|Albrecht Freiherr von Pechmann (1879-1949)]]<br>
Datei:1929 Pechmann Stadtkommandant Ausschnitt Detail.jpg|link=Der vorerst letzte Verbandsvorsitzende: Albrecht Freiherr von Pechmann|[[Der letzte Verbandsvorsitzende vor der Auflösung: Albrecht Freiherr von Pechmann|Albrecht Freiherr von Pechmann (1879-1949)]]<br>
</gallery>
</gallery>
==Wie geht es weiter?==
Neben vielen weiteren Persönlichkeiten, die den Paritätischen in Bayern in den vergangenen 100 Jahren geprägt haben, werden in diesem Geschichts-Wiki in Zukunft weitere Themen aus der Verbandsgeschichte vorgestellt, darunter:
*Flüchtlinge und Vertriebene in der Nachkriegszeit
*Heimerziehung in der jungen Bundesrepublik
*Nachbarschaftshilfen und andere ambulante Versorgungslösungen
*Das Freiwillige Soziale Jahr
*Die Selbsthilfebewegung
*Die Organisation von Menschen mit Behinderungen
*Die Neue Frauenbewegung
*Elterninitiativen und neue Formen der Kinderbetreuung
*Queerer Aktivismus
*Starthilfen für Geflüchtete aus Vietnam
*Die Umstrukturierung des Paritätischen in Bayern ab den 1990er Jahren
*Die Unterstützung beim Aufbau des Paritätischen in Sachsen
*Die Gleichstellung von Frauen und Männern innerhalb der Verbandsstrukturen
*Die Entwicklung des Paritätischen in Bayern hin zu einem stolzen Anbieter sozialer Dienstleistungen
*Hilfen für Geflüchtete in den 2010er Jahren
*Die Klimakrise

Version vom 11. Oktober 2024, 08:04 Uhr

Herzlich Willkommen im Geschichts-Wiki des Paritätischen in Bayern!

Über ein Jahr lang hat der Paritätische in Bayern seine 100-jährige Geschichte von externen Historiker*innen der Agentur Neumann & Kamp Historische Projekte erforschen lassen. Sie haben Archive aufgesucht, historische Dokumente und Fachliteratur gesichtet und mit vielen Zeitzeug*innen gesprochen. Dieses Wiki ist das Ergebnis des Projekts.

Auf dieser Seite finden Sie eine chronologische Zusammenfassung der 100-jährigen Geschichte des Verbands. Die blau hervorgehobenen Links im Text führen zu thematischen Schwerpunktseiten. Hier können Sie mehr über verschiedene Aspekte der Verbandsgeschichte erfahren: Wie sind bestimmte Schwerpunkte der Verbandsarbeit entstanden? Was musste passieren, damit sich der Verband zu dem entwickeln konnte, was er heute ist? Die Schwerpunktseiten geben jeweils Einblick in einen bestimmten Moment in der Geschichte des Paritätischen in Bayern.

Unterhalb der chronologischen Darstellung finden Sie eine Personengalerie, die unterschiedliche Menschen aus der 100-jährigen Geschichte des Verbands vorstellt. Die Porträts zeigen, wie vielfältig die Wege sind, die zum Paritätischen in Bayern führen.

Alle Seiten des Wikis sind an passenden Stellen miteinander verlinkt. Folgen Sie Ihrer Neugier und stöbern Sie durch die Verbandsgeschichte! Wir wünschen Ihnen eine interessante Lektüre.

Meilensteine der Geschichte des Paritätischen in Bayern

Vor der Verbandsgründung: Frauen engagieren sich gegen die herrschende Not

Keimzelle des Paritätischen in Bayern ist die bürgerliche Frauenbewegung. Wohlhabende Frauen schließen sich zur Zeit des deutschen Kaiserreichs zusammen, um Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen zu schaffen. In diesem Kontext entsteht in München der Verein für Fraueninteressen. Er setzt sich dafür ein, dass Mädchen und Frauen zukünftig die gleichen Bildungschancen erhalten wie Jungen und Männer. Durch Vorträge, Bildungsangebote und soziale Projekte unterstützt der Verein Frauen dabei, unabhängig zu werden und sich gesellschaftlich zu engagieren.

Nach dem frühen Tod ihres Mannes findet Luise Kiesselbach in sozialer Arbeit eine neue Lebensaufgabe. 1912 wird sie Vorsitzende des Vereins für Fraueninteressen in München. Sie setzt sich unermüdlich für soziale Initiativen ein. Das ist bald wichtiger denn je, denn der Erste Weltkrieg und die Wirtschaftskrisen der 1920er Jahre bringen viele Menschen in eine prekäre Lebenssituation.

Zu Beginn der 1920er Jahre ist die Fürsorge durch verschiedene Gesetze, die in den vorangegangenen Jahren überstürzt erlassen wurden, unübersichtlich organisiert. Doch viele Menschen brauchen Hilfe. Bald kommt es daher zu einer Reorganisation des Fürsorgewesens. Ein wesentlicher Baustein der Reformen ist die Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht, die am 13. Februar 1924 beschlossen wird. Dieses und andere neue Gesetze stärken die freie Wohlfahrtspflege. Ihre Spitzenverbände bekommen jetzt finanzielle Zuschüsse, die sie an ihre Mitgliedsorganisationen verteilen können. Problem hierbei: Wer keinem Dachverband angehört, geht leer aus. Davon sind vor allem die politisch und kirchlich unabhängigen Einrichtungen und Vereine bedroht. Luise Kiesselbach hat das Problem frühzeitig erkannt: Schon 1922 hat sie eine „Arbeitsgemeinschaft paritätischer Wohlfahrtsanstalten, Einrichtungen und Vereine“ im Stadtbund Münchner Frauenvereine gegründet, um die unabhängige Wohlfahrtspflege in München zu stärken.

1924: Der Paritätische in Bayern entsteht

Vom 11. bis 14. Juni 1924 veranstaltet der Hauptverband Bayerischer Frauenvereine seinen 10. Bayerischen Frauentag in München. Vorsitzende des Hauptverbands ist zu dieser Zeit Luise Kiesselbach. Bei der Tagung wird beschlossen, einen „Paritätischen Wohlfahrtsverband Bayern“ zu gründen. Er steht nicht nur Frauenvereinen offen. Alle paritätisch arbeitenden Organisationen und Einrichtungen sind dazu eingeladen, Teil des neuen Verbands zu werden. Dafür wirbt Luise Kiesselbach in den folgenden Monaten. Sie wird in dieser Zeit zu einer Zentralgestalt des Paritätischen in Bayern und auch dessen erste Vorsitzende.

Altersarmut ist ein auch in den 1920er Jahren bereits oft übersehenes Problemfeld. Von ihr sind alleinstehende Frauen aus der Mittelschicht besonders oft betroffen. Der Paritätische in Bayern beginnt, darauf aufmerksam zu machen, die Bekämpfung der „Altersnot“ wird bald zum ersten Arbeitsschwerpunkt des Verbands.

Für Luise Kiesselbach ist es wichtig, dass die Mitgliedsorganisationen des Paritätischen auf einer vom Gedanken der „paritas“, der Gleichheit und Gleichwertigkeit, getragenen Haltung zusammenarbeiteten. Sozialpolitisch setzt sie sich dafür ein, Armut zu bekämpfen, um die soziale Lebenslage der Menschen zu verbessern. Ebenso soll dieser Gedanke sich im Tätigkeitsprofil des Verbands widerspiegeln: Die soziale Hilfe, die der Verband mit seinen Mitgliedern leisten will, ist dem Leitbild verpflichtet, dass jeder Mensch gleichwertig ist und auch entsprechend behandelt werden muss.

Am 27. Januar 1929 stirbt Luise Kiesselbach unerwartet. Den Verbandsvorsitz übernimmt daraufhin der bekannte Rechtsanwalt Dr. Christoph Schramm.

Auflösung des Verbands in der Zeit des Nationalsozialismus

Zu Beginn der 1930er Jahre bestimmt die Weltwirtschaftskrise das Leben der Menschen. Die freien Wohlfahrtsverbände leiden darunter, dass sie keine Kredite und öffentlichen Zuschüsse mehr bekommen. Gleichzeitig sind immer mehr Menschen auf Unterstützung angewiesen. 1932 legt Christoph Schramm nach knapp drei Jahren den Verbandsvorsitz nieder. Sein Nachfolger wird Oberst a. D. Albrecht Freiherr von Pechmann, der auf eine lange Militärkarriere zurückblicken kann. Wie genau es zu dieser Wahl kommt, wird sich später nicht mehr rekonstruieren lassen, eine Verbindung zur paritätischen Wohlfahrtspflege hat er den vorhandenen Quellen nach zu schließen nicht.

Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die Umgestaltung des Landes nach nationalsozialistischen Prinzipien nimmt Fahrt auf. Mit der Machtübertragung an die Nationalsozialisten bricht auch für die deutsche Wohlfahrtspflege eine neue Zeit an. Am 29. April beschließt der reichsweite Dachverband des Paritätischen in Bayern, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband in Berlin, dass der Verband „seine paritätische Wohlfahrtsarbeit im Sinne der nationalen Erhebung weiter verfolgen soll“, also im Sinne des Nationalsozialismus. Der Vorsitzende des Gesamtverbands, der jüdische Kinderarzt Leo Langstein, tritt daraufhin zurück. Sein Nachfolger wird der bayerische Landesvorsitzende Albrecht von Pechmann.

Wenige Monate später steht fest, dass der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband im Zuge der Gleichschaltung mitsamt aller seiner Landesverbände von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) übernommen wird. Die Landesverbände bekommen die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Mitgliedsorganisationen sich ruhig verhalten und die Entwicklung hinnehmen. Widerstand gegen die Gleichschaltungspolitik ist nicht bekannt.

Der Paritätische in Bayern fordert seine Mitgliedsorganisationen im Zuge dieser Bestrebungen dazu auf, alle „Mitarbeiter nicht-arischer Abstammung in bevorzugten Stellungen“ zu entlassen. Einige Menschen und Organisationen, die bisher im Rahmen des Paritätischen in Bayern soziale Arbeit geleistet haben, müssen diese jetzt aufgeben: Jüdinnen und Juden werden gezielt aus dem Verband gedrängt, Selbsthilfestrukturen bald zerschlagen.

Im Herbst 1933 bekommt der Paritätische reichsweit eine neue Satzung. Er ist jetzt offiziell Teil der NSV und streng hierarchisch organisiert. Wer Mitglied werden möchte, muss nachweisen, dass er „nur im Sinne der national-sozialistischen Weltanschauung arbeiten wird.“

Am 30. Mai 1934 wird die endgültige Auflösung des Paritätischen angeordnet. Viele seiner Mitgliedsorganisationen bestehen unter dem Dach der NSV weiter, andere werden aufgelöst.

Wiedergründung nach 1945

Der Verein für Fraueninteressen übersteht die Zeit des Nationalsozialismus, wenngleich er seine Einrichtungen an die NSV verliert. So kann der Paritätische in Bayern direkt nach dem Zweiten Weltkrieg reaktiviert werden. Am 30. Juli 1948 kann der Paritätische in Bayern offiziell wiedergegründet werden. Er hat zu Beginn 20 Mitgliedsorganisationen und wird von der US-amerikanischen Militärregierung unterstützt. Bis in die 1950er Jahre kümmert sich der Verband vor allem um die Behebung der unmittelbaren Nachkriegsfolgen und die Versorgung von Flüchtlingen und Vertriebenen. Auch die Linderung der „Jugendnot“ wird jetzt zu einem wichtigen Themenfeld für den Paritätischen in Bayern.

Der Verband öffnet sich neuen Themenfeldern

Nachdem die unmittelbare Nachkriegsnot überstanden ist, beginnt für den Paritätischen in Bayern eine Zeit des Wachstums. Immer mehr Menschen, die besondere Lebenssituationen teilen, schließen sich zusammen, um sich gemeinsam für ihre Interessen einzusetzen. Den Anfang machen Eltern von Kindern mit Behinderungen. Ab den 1950er Jahren schließen sie sich vermehrt zusammen. 1958 entsteht so zum Beispiel der Verein zur Förderung spastisch gelähmter Kinder in Augsburg, der bald Mitglied im Paritätischen in Bayern wird. Das ist etwas Besonderes, denn seitdem der Nationalsozialismus das Prinzip der Selbsthilfe systematisch bekämpft hat, gibt es sie auch im Paritätischen in Bayern nicht mehr. Das wird sich bald vollkommen ändern, als im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen eine neue Selbsthilfebewegung entsteht.

1964 wird Bernhard Uffrecht Geschäftsführer des Paritätischen in Bayern. Er wird den Verband über viele Jahre prägen. Mit ihm findet der Paritätische in Bayern bald mehr und mehr zu seinem ganz eigenen Profil. Der Paritätische in Bayern eröffnet Sozialstationen, die ambulante Pflege anbieten, und startet das Projekt Essen auf Rädern. Dieses Modell, das Mahlzeiten an Menschen liefert, die sich nicht selbst versorgen können, wird bald auf viele Städte in Bayern ausgeweitet. Bernhard Uffrecht setzt sich persönlich sehr für den Auf- und Ausbau neuer ambulanter Angebote ein. Besonders am Herzen liegt ihm die Förderung sogenannter Nachbarschaftshilfen. Bis 1977 werden in Bayern 44 Nachbarschaftshilfen entstehen, die über 120.000 Stunden nachbarschaftliche Hilfe im Jahr leisten. Die Hilfe zur Selbsthilfe wird wieder zu einem leitenden Prinzip des Paritätischen in Bayern.

Soziale Arbeit jenseits traditioneller Strukturen

Der Paritätische in Bayern öffnet sich jetzt besonders für Zusammenschlüsse von marginalisierten Menschen, die von der staatlichen Sozialpolitik im traditionell geprägten Bayern kaum beachtet werden. Die Unterstützung der sogenannten Behindertenbewegung, die sich aus den Initiativen für Kinder mit Beeinträchtigungen entwickelt hat, ist nur der Anfang.

In den 1970er Jahren hält die Neue Frauenbewegung Einzug in den Paritätischen in Bayern. Frauenhäuser werden gegründet, um Frauen Schutz vor Gewalt zu bieten. Dabei unterstützt der Verband auch autonome Frauenhäuser, obwohl sie ansonsten in Politik und Gesellschaft auf großen Widerstand stoßen.

Zur selben Zeit entstehen als Antwort auf fehlende Betreuungsangebote Elterninitiativen, die alternative Formen der Kinderbetreuung ausprobieren und selbst organisieren. Auch das ermöglicht es vielen Frauen, ein selbstbestimmteres Leben zu führen, das nicht allein durch ihre Rolle als Mutter geprägt ist. Ab 1980 gibt es eine eigene Fachreferentin für Frauen und Familie im Paritätischen in Bayern. Der Verband fördert vielfältige Projekte von und für Frauen und Familien und unterstützt ihre politischen Forderungen.

Ende der 1970er Jahre macht der Paritätische in Bayern seine ersten Erfahrungen mit der Betreuung sogenannter Ausländer: Er übernimmt die Trägerschaft einer Einrichtung für Geflüchtete aus Vietnam. Auch das führt zur Einrichtung eines neuen Fachreferats im Verband.

In den 1980er Jahren findet die Schwulenbewegung ihren Weg in den Paritätischen in Bayern. Explizite Organisationen von und für Homosexuelle hat der Verband zuvor lange nicht aufnehmen wollen. Die ab Mitte der 1980er entstehenden Aids-Hilfen kümmern sich um alle von der Krankheit betroffenen Menschen, darunter Homosexuelle, aber auch Drogenabhängige und Prostituierte. Das eröffnet ihnen den Weg in den Paritätischen in Bayern und ermöglicht es, dass sich der Verband langfristig auch für explizite LGBTIQ-Organisationen öffnet.

Durch die Unterstützung neuer sozialer Bewegungen und die Förderung der Selbsthilfe entwickelt sich der Paritätische in Bayern in dieser Zeit zu einem Verband, der auf neue Weise Vielfalt und gesellschaftliches Engagement fördert. Dazu gehört auch, dass der Paritätische in Bayern zu einem wichtigen Unterstützer des Freiwilligen Sozialen Jahres wird.

Neue Verbandsstrukturen in den 2000er Jahren

In den folgenden Jahren durchläuft der Paritätische in Bayern Veränderungen und Anpassungen, die durch interne Herausforderungen und gesellschaftliche Entwicklungen herbeigeführt werden. Ein Wendepunkt ist der Ruhestand von Geschäftsführer Bernhard Uffrecht 1988. Mit ihm verlässt eine Person den Verband, die ihn jahrelang geprägt und ihm nach innen und außen Profil verliehen hat.

Seit der Gründung des Verbands in den 1920er Jahren haben Frauen im Paritätischen in Bayern entscheidende Arbeit geleistet. Nach Luise Kiesselbach gab es jedoch keine Frau mehr an der Spitze des Verbands. Mit der Einsetzung einer Referentin für Frauen und Familie hat auch eine systematische Untersuchung der Geschlechterverhältnisse im Paritätischen in Bayern begonnen, die 1994 in einer ausführlichen Studie veröffentlicht wird. Diese Studie zeigt gravierende Ungleichheiten. Die Ergebnisse der Studie führen zu konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Geschlechtergerechtigkeit im Verband. Der Paritätische in Bayern setzt das Konzept des Gender Mainstreamings um. Durch diese Strategie wird Geschlechtergerechtigkeit bald bei allen Entscheidungen und Maßnahmen des Verbands berücksichtigt.

In den 1990er Jahren durchläuft der Verband zugleich eine finanzielle und strukturelle Krise. Er ist in den vergangenen Jahrzehnten stark gewachsen und muss seine Strukturen dringend diesen neuen Umständen anpassen. Umfassende Umstrukturierungen können den Paritätischen in Bayern stabilisieren. Der Verband führt ein strenges Finanzcontrolling ein und wandelt eigene Einrichtungen in GmbHs um. Ab den 2000er Jahren trägt ein hauptamtlicher Vorstand die operative Verantwortung für den Verband: Je ein Vorstand für Verbands- und Sozialpolitik sowie Wirtschaft und Finanzen fungieren gleichberechtigt als Doppelspitze.. Kontrolliert werden die beiden Vorstände von einem ehrenamtlichen Verbandsrat. Im Lauf der 2000er Jahre kann der Verband, neben seiner gestärkten Position als Anbieter sozialer Dienstleistungen, auch wieder stärker sozialpoltisch wirken. Neben dem Thema Gleichstellung von Frauen und Männern, wird die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in neuer Weise zu einem Schwerpunkt der Verbandsarbeit. Die Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention 2006 ist ein wichtiger Meilenstein. Der Paritätische in Bayern engagiert sich jetzt in neuem Maß in der Eingliederungshilfe. Die große Verbandskrise ist überwunden, die Arbeit kann mit vollem Elan weitergeführt werden.

2010er Jahre bis heute: Vielfalt, Toleranz und Offenheit

In den 2010er Jahren kommen gesellschaftliche Herausforderungen auf, denen der Paritätische in Bayern jetzt mit neuer Kraft begegnen kann: Als ab 2014 immer mehr Geflüchtete auf der Suche nach Sicherheit nach Bayern kommen, packen der Paritätische in Bayern und seine Mitgliedsorganisationen entschlossen mit an. Angetrieben durch die Klimaschutzbewegung beginnt der Verband jetzt außerdem, ökologische Nachhaltigkeit als Teil seiner sozialen Verantwortung zu verstehen. Die Verbindung von sozialer und ökologischer Gerechtigkeit steht dabei im Mittelpunkt. Die Forderung nach einer sozialökologischen Transformation wird zu einem neuen Schwerpunkt der Verbandsarbeit.

Auch in den etablierten Arbeitsschwerpunkten des Verbands steht die Entwicklung nicht still. Aus der Unterstützung für queere Menschen folgt, dass das Referat Frauen 2021 um die Themen Gleichstellung und LGBTIQ erweitert wird. Zu Beginn der 2020er Jahre stehen die Mitgliedsorganisationen des Paritätischen in Bayern vor zwei großen Herausforderungen: Die Finanzierungsbedingungen für soziale Träger sind schwierig, Aussicht auf Besserung gibt es nicht. Die Arbeits- und Fachkräftelücke führt außerdem dazu, dass soziale Angebote nicht mehr aufrechterhalten werden können. Der Paritätische in Bayern sieht es damals wie heute als seine Verantwortung, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass seine Mitgliedsorganisationen gut arbeiten können. Dazu gehört auch, sich als Verband zu überlegen, wie er die Versorgung weiterhin auf einem hohen Niveau in der Fläche sicherstellen kann. Damit von der Politik die finanzpolitischen Rahmenbedingungen hierfür geschaffen werden, will der Paritätische in Bayern als Verband auch in Zukunft aufzeigen, dass ein funktionierender Sozialstaat mit einem stabilen Netz sozialer Einrichtungen einen Grundpfeiler unserer Demokratie bildet.

Menschen aus 100 Jahren Verbandsgeschichte


Debug data: