Unterstützung für Flüchtlinge und Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg

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Noch bevor der Paritätische in Bayern nach dem Ende des Krieges wiedergegründet wird, geht es an die Arbeit: Viele Menschen sind heimatlos und brauchen Hilfe. Die leistet der Paritätische in Bayern auf ganz verschiedenen Ebenen.

Erste Hilfe nach dem Krieg: „Ausländische Liebesgaben“


Im Flüchtlingslager in Bayreuth trennen nur dünne Vorhänge die Wohnbereiche der vielen Geflüchteten in den Baracken. Es ist eines der Lager, in denen der Paritätische in Bayern aktiv ist.


Am 23. August 1946 schreibt Anna Heim-Pohlmann einen Bericht. Sie listet auf, was der Paritätische in Bayern in den letzten zwei Monaten geleistet hat. Offiziell gibt es den Verband gerade gar nicht. Er wurde 1934 aufgelöst. Das ist zwölf Jahre her. Jetzt, da der Zweite Weltkrieg beendet ist, kann die Arbeit endlich weitergehen. Der Wiederaufbau des Verbands läuft auf Hochtouren. In dem Bericht von Anna Heim-Pohlmann geht es vor allem darum, welche „Auslands-Liebesgaben“ der Paritätische in Bayern bekommen hat.[1] Damit sind Spenden aus anderen Ländern gemeint. Anna Heim-Pohlmann schreibt: Der Paritätische in Bayern hat Zucker, Kakaopulver, Trockenmilch, Eipulver, Haferflocken, Fleisch- und Gemüsekonserven, Kondensmilch, Männer- und Kinderschuhe und 6 Ballen Kleider – Anzüge, Wollwesten, Männerhemden und Frauenkleidung – bekommen. All das soll bald an „Flüchtlinge und Heimkehrer“ verteilt werden.[2]

Viele Wege führen ins Flüchtlingslager

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind viele Menschen irgendwo in Deutschland gestrandet. Sie sind heimatlos und auf Hilfe angewiesen. Sie haben aus ganz unterschiedlichen Gründen ihren Wohnort verlassen – manche freiwillig, andere weil sie verschleppt oder vertrieben wurden. Von den sogenannten Displaced Persons (DP) gibt es jetzt mindestens 10,8 Millionen in Europa.[3] Es sind zum Beispiel ehemalige Gefangene der Konzentrationslager, Zwangsarbeiter*innen und zivile Kriegsgefangene. Manche von ihnen können bald wieder in ihre Heimat zurückkehren.[4] Andere möchten oder können das nicht.[5] Sie leben ohne Perspektive in Flüchtlingslagern.

Der Paritätische in Bayern veröffentlicht 1950 gemeinsam mit den anderen Wohlfahrtsverbänden diese Broschüre mit Eindrücken aus den Flüchtlingslagern. Sie soll zeigen: Bayern braucht mehr Unterstützung von den anderen Bundesländern.

In denen leben auch viele sogenannte Kriegsheimkehrer. Das sind zum Beispiel ehemalige Wehrmachtssoldaten, Rotkreuzschwestern oder Mitarbeitende der NS-Behörden und ihre Familien. Sie können oft nicht nach Hause zurückkehren, weil ihre Heimat im Krieg zerstört wurde oder nicht mehr auf deutschem Gebiet liegt.[6] Dazu kommen die Menschen, die aus den ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches oder den während der NS-Herrschaft besetzten Gebieten in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien kommen. Von hier werden etwa 12 Millionen Deutsche vertrieben oder zwangsumgesiedelt. 1,9 Millionen von ihnen kommen nach Bayern.[7] Für diese Menschen gibt es immer neue Bezeichnungen: Sie werden unter anderem Flüchtlinge, Heimatvertriebene oder Evakuierte genannt.[8]

Evakuierte sind aber auch die Menschen, die während des Krieges aus ganz Deutschland in bayerische Kleinstädte evakuiert worden sind – zum Schutz vor Bombenangriffen. Bayern war während des Zweiten Weltkriegs der „Luftschutzkeller des Reiches“: Weil es hier viele ländliche Gebiete gibt, war es in Bayern sicherer als anderswo.[9] Große Städte und Industrieanlagen waren beliebtere Ziele für Angriffe.

Im Jahr 1946, als Anna Heim-Pohlmann ihren Bericht schreibt, leben in Bayern über 150.000 Menschen in Flüchtlingslagern. Die Lager sind überfüllt. Es gibt viele Krankheiten.[10] Drei Jahre später gibt es immer noch 465 staatliche Flüchtlingslager in Bayern. In ihnen leben über 90.000 Menschen. Der Grund: Es gibt zu wenig Wohnungen. Deswegen sitzen die Menschen in den Lagern fest.[11] Der Paritätische in Bayern hilft in Flüchtlingslagern in München, Nürnberg, Bayreuth, Coburg, Schweinfurt und Würzburg und in Heimen für Flüchtlingskinder in Bad Tölz, Dachau und am Schliersee.[12] Obwohl der Verband erst 1948 wieder offiziell als Verein gegründet wird, ist er seit November 1945 für die „Behebung der Flüchtlingsnot“ mitverantwortlich: In der Verordnung Nr. 3 über das Flüchtlingswesen wird der Paritätische in Bayern vom Bayerischen Staatsminister des Innern dazu in einer Reihe mit den anderen Wohlfahrtsverbänden genannt.[13]

Streitpunkt Sudetendeutsches Sozialwerk

Die meisten der Menschen, die so in Lagern in Bayern betreut werden, sind Flüchtlinge und Vertriebene.[14] Viele von ihnen sind Sudetendeutsche. Die kommen aus Böhmen, Mähren und Schlesien. Von dort wurden sie vertrieben. Denn: Die Gebiete gehören nach dem Krieg wieder zur Tschechoslowakei. Etwa eine Million Sudetendeutsche sind deswegen jetzt in Bayern. Sie sind die erste Gruppe von Vertriebenen, die sich „landsmannschaftlich“ organisiert: Sie schließen sich als geschlossene Gruppe von Sudetendeutschen in Deutschland zusammen. So entsteht 1950 die Sudetendeutsche Landsmannschaft. Die soll die gemeinsamen Interessen vertreten und die sudetendeutsche Kultur bewahren.[15]

Ein Jahr nach der Gründung entsteht die Idee, eine eigene Wohlfahrtsorganisation ins Leben zu rufen. 1952 ist es soweit: In München wird das Sudetendeutsche Sozialwerk (SSW) gegründet. Es soll „als Wohlfahrtsverband der sudetendeutschen Volksgruppe [...] der Jugend, der Familie, den alten Menschen sowie der landsmannschaftlichen Gemeinschaft“ dienen.[16]

Das SSW kümmert sich vor allem darum, die sudetendeutschen Vertriebenen mit Essen, Wäsche und Kleidung zu versorgen. Für diese Aufgabe wird eine Verwaltung in Landshut eingerichtet. Von hier aus wird die Hilfe organisiert. In der ganzen Bundesrepublik hat das SSW sogenannte Packstellen – insgesamt 242. Hier werden Essen, Wäsche und Kleidung von Freiwilligen in Hilfspakete gepackt. 134.000 solcher Pakete finden den Weg zu sudetendeutschen Vertriebenen.[20] Das Motto: „Hilfe zur Selbsthilfe“ – von Sudetendeutschen für Sudetendeutsche.[21] Dem Paritätischen Gesamtverband in Frankfurt am Main passt das gar nicht. Sein Vorstand findet: Selbsthilfe hat im Verband nichts zu suchen. Das wird sich erst einige Jahre später grundlegend ändern. Dass der Paritätische in Bayern das SSW als Mitglied aufgenommen hat, ohne vorher mit dem Gesamtverband zu sprechen, kann dessen Vorstand nicht verstehen. Aber: Der Paritätische in Bayern hat Fakten geschaffen. Der Gesamtverband kann das SSW nicht mehr grundsätzlich ablehnen – es ist ja schon Mitglied in einem seiner Landesverbände. Und jetzt? Darüber wird im Vorstand diskutiert.[22] Anna Heim-Pohlmann kämpft für das SSW. Sie sagt: „Es werde dort zweifelsohne einwandfreie Wohlfahrtsarbeit geleistet.“[23] Dagegen kann der Rest des Vorstands nichts sagen. In seinem Beschluss betont er aber: „Gegen die Aufnahme des Sudetendeutschen Sozialwerkes in Landesverbände des DPWV bestehen keine Bedenken, falls nachgewiesenermaßen der Schwerpunkt der Arbeit nicht auf landsmannschaftlicher Betreuung, sondern auf einwandfreier Wohlfahrtsarbeit liegt.“[24]

Neue Arbeitsfelder

Durch die Situation in den Flüchtlingslagern entstehen auch direkt im Paritätischen in Bayern Organisationen und Einrichtungen. Zum Beispiel die Münchner Mütterschule. Sie entsteht aus Mütterkursen, die Lotte Geppert für Frauen in den Flüchtlingslagern anbietet. Mit der Zeit verschiebt sich der Schwerpunkt der Arbeit des Paritätischen in Bayern in den Lagern: Es fliehen immer mehr Menschen aus dem Osten in die Bundesrepublik. Betty Geiling und Ekkehard Doll werden sich in den folgenden Jahrzehnten besonders für sie einsetzen.

Quellen und Literatur

Quellen:

  • Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Niederschrift über die Vorstands- und Beitratssitzung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, 27.4.1956.
  • Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Niederschrift über die Vorstandssitzung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, 9.8.1956.
  • Bayerisches Hauptstaatsarchiv, OMGB 10/050-2/015, Statistical and Narrative Reports on Foreign Supplies - Paritätischer Wohlfahrtsverband, 1946.
  • Kornrumpf, Martin: In Bayern angekommen. Die Eingliederung der Vertriebenen. Zahlen – Daten – Namen, München 1979.
  • Sudetendeutsches Sozialwerk e.V. (Hg.): 30 Jahre Sudetendeutsches Sozialwerk 1952-1982, München 1982.

Literatur:

  • Beer, Mathias: Flüchtlinge – Ausgewiesene – Neubürger – Heimatvertriebene. Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsintegration in Deutschland nach 1945, begriffsgeschichtlich betrachtet, in: Beer, Mathias/Kintzinger, Martin/Krauss, Marita (Hg.): Migration und Integration. Aufnahme und Eingliederung im historischen Wandel, Stuttgart 1997, S. 145-167.
  • Jacobmeyer, Wolfgang: Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945-1951, Göttingen 1985.
  • Kuller, Christiane: „Stiefkind der Gesellschaft“ oder „Trägerin der Erneuerung“? Familien und Familienpolitik in Bayern 1945 bis 1974, in: Schlemmer, Thomas/Woller, Hans: Gesellschaft im Wandel 1949 bis 1973. Bayern im Bund Bd. 2, München 2002, S. 269-346.
  • Lindner, Ulrike: „Wir unterhalten uns ständig über den Milchpfennig, aber auf die Gesundheit wird sehr wenig geachtet.“ Gesundheitspolitik und medizinische Versorgung 1945 bis 1975. In: Thomas Schlemmer (Hg.): Bayern im Bund, Bd. 1, Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973, München 2001, S. 205-272.
  • Renghart, Martin: Flüchtlingslager, in: Historisches Lexikon Bayerns (https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Fl%C3%BCchtlingslager, aufgerufen 6.5.2024).
  • Schießl, Sascha: „Das Tor zu Freiheit“. Kriegsfolgen, Erinnerungspolitik und humanitärer Anspruch im Lager Friedland (1945—1970), Göttingen 2016.
  • Stickler, Matthias: Sudetendeutsche Landsmannschaft, in: Historisches Lexikon Bayerns (https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Sudetendeutsche_Landsmannschaft, aufgerufen 7.5.2024).
  • Ziegler, Walter: Flüchtlinge und Vertriebene, in: Historisches Lexikon Bayerns (https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Fl%C3%BCchtlinge_und_Vertriebene, aufgerufen 6.5.2024).

Einzelnachweise

  1. BayHStA, OMGB 10/050-2/015, Statistical and Narrative Reports on Foreign Supplies - Paritätischer Wohlfahrtsverband, 1946.
  2. Ebd.
  3. Vgl. Jacobmeyer, Wolfgang: Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945-1951, Göttingen 1985, S. 42.
  4. Vgl. Jacobmeyer: Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer, S. 59 ff.
  5. Vgl. Jacobmeyer: Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen AusländerS. 74 ff.
  6. Vgl. Schießl, Sascha: „Das Tor zu Freiheit“. Kriegsfolgen, Erinnerungspolitik und humanitärer Anspruch im Lager Friedland (1945—1970), Göttingen 2016, S. 70 f.
  7. Vgl. Ziegler, Walter: Flüchtlinge und Vertriebene, in: Historisches Lexikon Bayerns (https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Fl%C3%BCchtlinge_und_Vertriebene, aufgerufen 6.5.2024).
  8. Vgl. Beer, Mathias: Flüchtlinge – Ausgewiesene – Neubürger – Heimatvertriebene. Flüchtlingspolitik und Flüchtlingsintegration in Deutschland nach 1945, begriffsgeschichtlich betrachtet, in: Beer, Mathias/Kintzinger, Martin/Krauss, Marita (Hg.): Migration und Integration. Aufnahme und Eingliederung im historischen Wandel, Stuttgart 1997, S. 145-167.
  9. Zitiert nach: Kuller, Christiane: „Stiefkind der Gesellschaft" oder „Trägerin der Erneuerung"? Familien und Familienpolitik in Bayern 1945 bis 1974, in: Gesellschaft im Wandel 1949 bis 1973. Bayern im Bund Bd. 2, München 2002, S. 275.
  10. Vgl. Lindner, Ulrike: Wir unterhalten uns ständig über den Milchpfennig, aber auf die Gesundheit wird sehr wenig geachtet. Gesundheitspolitik und medizinische Versorgung 1945 bis 1975. In: Thomas Schlemmer (Hg.): Bayern im Bund, Bd. 1, Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973, München 2001, S. 222-224.
  11. Vgl. Ziegler: Flüchtlinge und Vertriebene.
  12. Kornrumpf, Martin: In Bayern angekommen. Die Eingliederung der Vertriebenen. Zahlen – Daten – Namen, München 1979, S. 211.
  13. Verordnung Nr. 3 über das Flüchtlingswesen, zitiert nach: Kornrumpf: In Bayern angekommen, S. 17.
  14. Vgl. Renghart, Martin: Flüchtlingslager, in: Historisches Lexikon Bayerns (https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Fl%C3%BCchtlingslager, aufgerufen 6.5.2024).
  15. Vgl. Stickler, Matthias: Sudetendeutsche Landsmannschaft, in: Historisches Lexikon Bayerns (https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Sudetendeutsche_Landsmannschaft, aufgerufen 7.5.2024).
  16. Sudetendeutsches Sozialwerk e.V. (Hg.): 30 Jahre Sudetendeutsches Sozialwerk 1952-1982, München 1982, S. 9.
  17. 30 Jahre Sudetendeutsches Sozialwerk, S. 13.
  18. 30 Jahre Sudetendeutsches Sozialwerk, S. 11.
  19. 30 Jahre Sudetendeutsches Sozialwerk, S. 14.
  20. Vgl. 30 Jahre Sudetendeutsches Sozialwerk, S. 17
  21. 30 Jahre Sudetendeutsches Sozialwerk, S. 11.
  22. Vgl. Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Niederschrift über die Vorstands- und Beitratssitzung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, 27.4.1956, S. 5.
  23. Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Niederschrift über die Vorstandssitzung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, 9.8.1956, S. 8.
  24. Ebd.

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