„Jugendnot“ und Heimerziehung im Paritätischen in Bayern
Nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es viele Kinder, die Hilfe brauchen. Die Strukturen der damaligen Jugendhilfe werden damit nicht fertig, es gibt viele Probleme – auch im Paritätischen in Bayern.
Eine lange Tradition
Seit den 1920er Jahren sind Kinderheime Teil des Paritätischen in Bayern. Der Verein für Fraueninteressen betreibt damals zum Beispiel das Luisenhaus in München. Das ist ein Erziehungsheim, in dem 20 Kinder aus schwierigen Familienverhältnissen leben.[1] Auch andere Mitgliedsorganisationen, die seit der Gründung Teil des Paritätischen in Bayern sind, kümmern sich um Kinder, die keine Eltern haben oder deren Familien sie nicht versorgen können. Der Nationalsozialismus bedeutet für die Jugendfürsorge, wie die Jugendhilfe damals heißt, einen tiefen Einschnitt: Auch Kinder werden jetzt nach rassenideologischen Kriterien beurteilt.[2] Kinderheime und andere Einrichtungen werden ihren Trägern entzogen und Teil der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV).
Jugendfürsorge in der Nachkriegszeit
Nach dem Zweiten Weltkrieg muss die Jugendfürsorge neu aufgebaut werden. Die Jugendämter sind nicht vorbereitet auf das, was sie jetzt erwartet: Es gibt viele Kinder und Jugendliche, die dringend Hilfe brauchen. Sie haben durch den Krieg ihre Familie und ihr Zuhause verloren. Jetzt ziehen sie ohne Ziel durch die zerstörten Straßen. Hier drohen Gefahren: Viele junge Menschen werden kriminell oder stecken sich mit Krankheiten an.[3] Die Rechtsgrundlage der Jugendämter in Bayern ist unübersichtlich. Sie müssen plötzlich viele der Aufgaben übernehmen, die vorher von der NSV übernommen wurden.[4] Die Neuorganisation zieht sich bis in die 1950er Jahre hin. Es fehlt an Räumen, Büromaterial und gut ausgebildetem Personal.[5]
Das Haus Maffei
Die Arbeit muss irgendwie weitergehen. Der Paritätische in Bayern wird kurz nach dem Krieg wiedergegründet. Bald betreibt auch er ein eigenes Kinderheim: Das Haus Maffei in Feldafing am Starnberger See. Das Haus wurde 1937 gebaut und als “Unterrichtslabor für die Reichsschule der NSDAP“ genutzt.[6] Nach dem Kriegsende kommen hier über 100 jugendliche Überlebende aus Konzentrationslagern unter. Betrieben wird das Heim jetzt von den Vereinten Nationen. Der Paritätische in Bayern übernimmt das Haus Maffei im Januar 1951 – mitsamt der Verantwortung für 90 Kinder und Jugendliche sowie das dazugehörige Personal.[7] Das Haus wird neu eingerichtet und bekommt einen neuen Schwerpunkt: Es wird für die “Aufnahme von schwachbegabten, entwicklungsrückständigen, aber bildungsfähigen Kindern” vorbereitet.[8] Dazu gehört auch die Einrichtung einer eigenen privaten Sonderschule.
Bis zu seiner Schließung 1972 wird es im Haus Maffei immer wieder schwere Missstände geben: Überbelegung, Sanierungsbedarf und ein ständiger Wechsel des Personals, das mit den Arbeitsbedingungen unzufrieden ist. Gewalt als Erziehungsmaßnahme ist zu dieser Zeit in vielen Kinderheimen üblich. Das hängt unter anderem mit der Ideologie und den Erziehungsmethoden zusammen, die im Nationalsozialismus propagiert wurden. Die Heimerziehung ist zu dieser Zeit nicht auf individuelle Förderung bedacht, sondern hat einen strafenden Blick auf die Kinder. Sie werden „primär von ihren Defiziten her wahrgenommen“.[9] Sie gelten als verwahrlost und als nicht funktionsfähige Mitglieder der Gesellschaft, denen man Ordnung und Gehorsamkeit beibringen muss. Gleichzeitig wird die Situation dadurch verschlimmert, dass das Heimpersonal häufig nicht gut ausgebildet und überfordert ist.[10] Von außen greift niemand ein: Bei der Überprüfung von Kinderheimen achtet das Jugendamt nur auf den Zustand der Gebäude. Die angewandten Erziehungsmethoden werden nicht hinterfragt.[11] In vielen Kinderheimen der Bundesrepublik gehören Stockhiebe, Schläge und tagelange Isolationshaft in den 1950er und 60er Jahren zum Alltag. Auch Essenszwang oder -entzug und Demütigungsrituale sind nicht selten.[12] Im Haus Maffei kommt es zu sexualisierter Gewalt und Misshandlungen. Die werden erst Jahrzehnte später ans Licht kommen und vom Verband aufgearbeitet werden.
Aufarbeitungsprozess im Paritätischen in Bayern Im September 2020 kam eine private Recherchegruppe auf den Vorstand des Paritätischen in Bayern zu und berichtete über sexualisierte Gewalt und Misshandlungen in einer ehemaligen Einrichtung des Paritätischen in Bayern in den 1960er Jahren, dem „Haus Maffei“ in Feldafing. Die Recherchegruppe legte dabei Informationen vor, die ehemalige Heimkinder der Gruppe zur Verfügung gestellt hatten. Der Vorstand stufte die Berichte der Recherchegruppe und der Betroffenen sofort als glaubhaft ein und entschloss sich noch im Herbst 2020 zu einer umfassenden Aufarbeitung der Vorfälle im „Haus Maffei“. Ziel der Aufarbeitung ist, heute klar und konsequent die Verantwortung für die damaligen Taten in der ehemaligen Einrichtung des Verbands zu übernehmen. Auf seiner Website dokumentiert der Verband den gesamten Prozess. |
„Jugendnot“: Ein heiß diskutiertes Thema
1952 übernimmt Elisabeth Bamberger die Leitung des Münchner Jugendamts. Sie versucht seit dem Ende des Krieges immer wieder, auf die „Jugendnot“ aufmerksam zu machen.[13] „Bei einem Schiffbruch rettet man zuerst die Kinder; wenn wir den Bestand unseres Volkes retten wollen [...], dann müssen wir auch in dem Schiffbruch unseres Staates zuerst die Kinder retten“, meint sie.[14] In den folgenden Jahren setzt sie sich für eine Reform der Jugendfürsorge ein. Sie wünscht sich, dass dem Jugendamt in Zukunft „wichtiger als die Gesetze die Menschen“ sind.[15] Sie fordert unter anderem, dass das Leben im Kinderheim dem einer Familie ähnlicher wird. Dafür sollen zum Beispiel die Gruppen, in denen die Kinder leben, verkleinert werden. Verschiedene Geschlechter und Altersstufen sollen zusammenwohnen. Außerdem soll es mehr „halboffene Erziehungseinrichtungen“ geben, wie zum Beispiel Kindergärten, Tagesstätten, aber auch Spielplätze.[16] Elisabeth Bamberger arbeitet seit vielen Jahren nicht nur in der städtischen Wohlfahrt, sondern auch in der Freien Wohlfahrtspflege. Seit den 1920er Jahren ist sie in verschiedenen Mitgliedsorganisationen des Paritätischen in Bayern aktiv. Nach ihrer Pensionierung wird sie 1959 stellvertretende Vorsitzende des Vereins Kinderschutz und Mutterschutz. Auch hier kümmert sie sich vor allem um die Weiterentwicklung der Kinderheime des Vereins.[17]
Dass es Probleme gibt, ist in der Fachwelt nicht zu übersehen. Bald wird fieberhaft nach Lösungen gesucht. In der Arbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflege in Bayern wird diskutiert, ob das klassische Heim überhaupt noch den modernen Ansprüchen an die Jugendfürsorge gerecht werden kann. Die Kritikpunkte sind auch hier: Zu große Gruppen, zu unpersönlich, zu abgeschottet von der Gesellschaft. 1965 wird nach einer Fachveranstaltung festgehalten: „Die Diskussion über die Heimerziehung scheint zwischen zwei Extremen zu schwanken: Einerseits das Heim als ein pädagogisches Unding, das eigentlich abgeschafft gehört und nur deshalb beibehalten wird, weil es nichts Besseres gibt — andererseits das gute Heim als Ersatzfamilie.“[18]
Neue Konzepte brauchen Zeit
Im selben Jahr, 1965, findet ein besonderes Treffen in den Räumen des Paritätischen Gesamtverbands in Frankfurt am Main statt. Es soll eine Aussprache geben zwischen mehreren Wohlfahrtsverbänden, Jugendämtern und dem Verein SOS-Kinderdorf. Das Konzept der SOS-Kinderdörfer stammt aus Österreich, von Hermann Gmeiner. Auch er ist bei dem Treffen in Frankfurt dabei. Die SOS-Kinderdörfer wollen eine Alternative zur klassischen Heimerziehung sein. In ihnen sollen Kinder in familienähnlichen Strukturen aufwachsen. Diesen Unterschied betont der Verein auch in seiner Werbung und kritisiert damit die gängigen Formen der Heimunterbringung. Davon fühlt der Rest der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland sich angegriffen. Ein SOS-Kinderdorf gibt es nämlich seit einigen Jahren auch in Bayern, in Dießen am Ammersee. Darum soll es jetzt eine Aussprache geben. Ein weiterer Streitpunkt ist das „Mutterprinzip“, nach dem die SOS-Kinderdörfer funktionieren: Die Kinder werden von einer Witwe oder unverheirateten Frau betreut. Erst wenn sie 14 Jahre alt sind und sich ihre Wohnsituation innerhalb der Einrichtung verändert, wird auch ein männlicher „Jugendleiter“ in die Erziehung der Kinder einbezogen.[19]
Es dauert 11 Jahre, bis der Verein SOS-Kinderdorf und der Paritätische in Bayern sich näherkommen. 1976 tritt der Verein dem Verband bei. Inzwischen hat sich vieles verändert: In den SOS-Kinderdörfern arbeiten jetzt ausgebildete Pädagog*innen. Der Verein ist professioneller geworden. Der Paritätische in Bayern ist stolz auf sein neues Mitglied.[20] Es ist eine Zeit, in der sich im Verband vieles bewegt und Neues ausprobiert wird – auch in der Kinder- und Jugendhilfe. Die Angebote werden immer vielfältiger. Der Verein SOS-Kinderdorf ist nur ein Beispiel von vielen für diese Entwicklung.
Seit den späten 1960er Jahren wird auch außerhalb der Fachwelt über die Heimerziehung in der Bundesrepublik diskutiert. Linke Studierende, Journalist*innen und Pädagog*innen prangern seitdem den "Knastcharakter" und die "Prügelpädagogik" der deutschen Kinderheime an.[21] Neben den SOS-Kinderdörfern entstehen in den 1970er und 1980er Jahren viele verschiedene Alternativen zur klassischen Heimerziehung. Dazu gehören zum Beispiel Wohngruppen, aber auch Pflegefamilien und ambulante Hilfen. 1978 hat der Paritätische in Bayern 172 Mitgliedsorganisationen, die in der Kinder- und Jugendhilfe arbeiten – weit mehr als in jedem anderen Bereich.[22] Die Bandbreite der Beratung und Unterstützung für Familien und Kinder ist größer als je zuvor. Auch in der Kinderbetreuung entstehen jetzt – zum Beispiel durch Elterninitiativen – neue Konzepte, die den Weg zum Paritätischen in Bayern finden. Dabei wird mit Erziehungsmethoden experimentiert, die vom gewaltvollen Alltag der Kinderheime der 1950er bis 70er Jahre weit entfernt sind.
Quellen und Literatur
Quellen:
- Archiv des SOS-Kinderdorf e.V., Zusammenfassender Bericht über das Gespräch Gemeinsames und Nicht-Gemeinsames zwischen SOS-Kinderdörfern und Deutscher Wohlfahrtspflege, 1.4.1965.
- Archiv des SOS-Kinderdorf e.V., interne Korrespondenz des Paritätischen in Bayern, 1976.
- Kinderschutz und Mutterschutz e.V. (Hg.): Innovative Sozialarbeit. 100 Jahre Kinderschutz und Mutterschutz e.V., 1901-2001, München 2011.
- O. A.: DPWV-Landesverband zieht Bilanz, in: DPWV-Nachrichten (1978) Heft 12, S. 179.
- O. A.: Zur Personalnot in Erziehungsheimen, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1966) Heft 3, S. 25.
Literatur:
- Berger, Manfred: Bahnbrechend auf dem Gebiet der Jugendhilfe. Elisabeth Bamberger (1890-1984), in: Blätter der Wohlfahrtspflege (2022) Heft 4, S. 153-154.
- Lambers, Helmut: Geschichte der Sozialen Arbeit. Wie aus Helfen Soziale Arbeit wurde, Regensburg 2018.
- Eberle, Annette: Vorstudie. Mögliche Tatbestände und Dimensionen sexualisierter Gewalt und Misshandlungen im Sonderschul-Kinderheim „Haus Maffei“ (1953-1972) in Feldafing sowie der Folgeeinrichtung, dem „Haus am Margaretenanger“ (HPZ, Lohhof ab 1972), unveröffentlicht.
- Kaminsky, Uwe: Zur historischen Entwicklung der Heimerziehung in der BRD und der DDR (1945-1975), in: Eberle, Annette/Kaminsky, Uwe/Behringer, Luise/Unterkofler, Ursula (Hg.): Menschenrechte und Soziale Arbeit im Schatten des Nationalsozialismus. Der lange Weg der Reformen, Wiesbaden 2019.
- Rädlinger, Christine: „Weihnachten war immer sehr schön.“ Die Kinderheime der Landeshauptstadt München von 1950 bis 1975, München 2014.
- Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian: Fürsorge und Wohlfahrtspflege in der Nachkriegszeit 1945–1953. Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 2012.
- Verein für Fraueninteressen (Hg.): 100 Jahre Verein für Fraueninteressen, München 1994.
- Zahner, Daniela: Jugendfürsorge in Bayern im ersten Nachkriegsjahrzehnt 1945-1955, München 2006.
Einzelnachweise
- ↑ Vgl. Verein für Fraueninteressen (Hg.): 100 Jahre Verein für Fraueninteressen, München 1994, S. 51-54.
- ↑ Vgl. Lambers, Helmut: Geschichte der Sozialen Arbeit. Wie aus Helfen Soziale Arbeit wurde, Regensburg 2018, S. 177.
- ↑ Vgl. Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian: Fürsorge und Wohlfahrtspflege in der Nachkriegszeit 1945-1953. Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 2012, S. 135.
- ↑ Vgl. Zahner, Daniela: Jugendfürsorge in Bayern im ersten Nachkriegsjahrzehnt 1945-1955, München 2006, S. 84-90.
- ↑ Vgl. Zahner, Jugendfürsorge in Bayern, S. 94 ff.
- ↑ Vgl. Eberle, Annette: Vorstudie. Mögliche Tatbestände und Dimensionen sexualisierter Gewalt und Misshandlungen im Sonderschul-Kinderheim „Haus Maffei“ (1953-1972) in Feldafing sowie der Folgeeinrichtung, dem „Haus am Margaretenanger“ (HPZ, Lohhof ab 1972), S. 2.
- ↑ Vgl. Eberle: Vorstudie, S. 37.
- ↑ Zitiert nach Eberle: Vorstudie, S. 37.
- ↑ Rudloff, Wilfried: Eindämmung und Persistenz. Gewalt in der westdeutschen Heimerziehung und familiäre Gewalt gegen Kinder, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History (2018) Heft 15, S. 256.
- ↑ Vgl. Kaminsky, Uwe: Zur historischen Entwicklung der Heimerziehung in der BRD und der DDR (1945-1975), in: Eberle, Annette/Kaminsky, Uwe/Behringer, Luise/Unterkofler, Ursula (Hg.): Menschenrechte und Soziale Arbeit im Schatten des Nationalsozialismus. Der lange Weg der Reformen, Wiesbaden 2019, S. 63 f.
- ↑ Vgl. Rädlinger, Christine: „Weihnachten war immer sehr schön.“ Die Kinderheime der Landeshauptstadt München von 1950 bis 1975, München 2014, S. 22.
- ↑ Vgl. Rudloff: Eindämmung und Persistenz, S. 260.
- ↑ Zitiert nach: Berger, Manfred: Bahnbrechend auf dem Gebiet der Jugendhilfe. Elisabeth Bamberger (1890-1984), in: Blätter der Wohlfahrtspflege (2022) Heft 4, S. 153.
- ↑ Ebd.
- ↑ Zitiert nach: Berger: Elisabeth Bamberger, S. 154.
- ↑ Zitiert nach: Berger: Elisabeth Bamberger, S. 153.
- ↑ Vgl. Kinderschutz und Mutterschutz e.V. (Hg.): Innovative Sozialarbeit. 100 Jahre Kinderschutz und Mutterschutz e.V., 1901-2001, München 2011, S. 11-12.
- ↑ O. A.: Zur Personalnot in Erziehungsheimen, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1966) Heft 3, S. 25.
- ↑ Vgl. Archiv des SOS-Kinderdorf e.V., Zusammenfassender Bericht über das Gespräch Gemeinsames und Nicht-Gemeinsames zwischen SOS-Kinderdörfern und Deutscher Wohlfahrtspflege, 1.4.1965.
- ↑ Vgl. Archiv des SOS-Kinderdorf e.V., interne Korrespondenz des Paritätischen in Bayern, 1976.
- ↑ Rudloff: Eindämmung und Persistenz, S. 263.
- ↑ Vgl. O. A.: DPWV-Landesverband zieht Bilanz, in: DPWV-Nachrichten (1978) Heft 12, S. 179.
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