Vom Paritätischen Wohlfahrtsverband zur Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt
1934 findet die Geschichte des Paritätischen in Bayern ein vorläufiges Ende: Der Verband wird in die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt eingegliedert und anschließend aufgelöst. Es gibt keinen nachweisbaren Widerstand. Den Anweisungen wird Folge geleistet.
Wohlfahrtspflege in der Weltwirtschaftskrise
Zu Beginn der 1930er Jahre bestimmt die Weltwirtschaftskrise das Leben der Menschen. Die freien Wohlfahrtsverbände leiden darunter, dass sie keine Kredite und öffentlichen Zuschüsse mehr bekommen. So können sie ihre Arbeit kaum noch finanzieren.[2] Gleichzeitig sind immer mehr Menschen auf Unterstützung angewiesen. Zunächst hatte Bayern Glück: Von der Welle der Arbeitslosigkeit, die ganz Deutschland erfasst hat, war hier in den ersten Jahren wenig zu spüren. Die meisten Arbeitsplätze gehen in der Industrie verloren und Bayern ist noch stark von der Landwirtschaft geprägt.[3] Aber letztendlich bleiben auch die bayerischen Städte nicht verschont: In Augsburg sind 1932 weit mehr als die Hälfte der erwerbsfähigen Menschen arbeitslos.[4] In München gibt es jetzt besonders viele sogenannte Dauerarbeitslose.[5] Auch in den ländlichen Gegenden leiden die Menschen zunehmend.[6]
Für den Paritätischen in Bayern ist all das ein wichtiges Thema: Er kommt am 2. Juli 1932 zu seiner jährlichen Generalversammlung zusammen. Beim anschließenden Vortragsabend geht es um „die Sparmaßnahmen in der Wohlfahrtspflege und ihre Grenzen“ und „die Leistungen der Gesundheitsfürsorge für Mutter und Kind und ihre Gefährdung durch die Gegenwartskrise“.[7] Einer der Redenden stellt fest: „Die Gesundheit des Volkes, vor allem des Nachwuchses, ist das einzige Kapital, das noch zur Verfügung steht.“[8]
Ein neuer Vorsitzender
Mit der Generalversammlung bekommt der Paritätische in Bayern einen neuen Vorsitzenden. Bisher hatte dieses Amt der Münchner Rechtsanwalt Dr. Christoph Schramm inne. Er hat es nach dem plötzlichen Tod von Luise Kiesselbach 1929 übernommen. Bekannt ist Christoph Schramm vor allem, seitdem er an einem aufsehenerregenden Gerichtsprozess beteiligt war: Im Prozess um den sogenannten Hitlerputsch 1924 hat er zu den Verteidigern der Angeklagten gehört. Wie viele andere Prozessbeteiligte hat Christoph Schramm den Gerichtssaal als Bühne für politische Reden genutzt. „Die deutsche Republik, die nur durch Verrat und Meineid einer geringen Menge undeutschen Gesindels entstanden ist, kann sich unmöglich darauf berufen, dass sie rechtlich entstanden ist. Sie kann keinen Rechtschutz für sich in Anspruch nehmen“, hat er hier zum Beispiel gesagt.[9] Ein Historiker wird die elf Verteidiger, zu denen Christoph Schramm gehörte, später als „Gesinnungsgenossen“ der „völkisch-nationalsozialistischen Sache“ bezeichnen.[10]
Auch der neue Vorsitzende des Paritätischen in Bayern, Albrecht von Pechmann, ist ein solcher Gesinnungsgenosse. Wie sein Vorgänger gelangt er wohl vor allem wegen seines Ansehens und seinen Kontakten an die Spitze des Verbands. Genau das versucht er jetzt zu nutzen, um dem Paritätischen in Bayern auf neue Weise zu helfen: Er organisiert „glänzende Bälle“ im Deutschen Theater in München.[11] Die Einnahmen werden dem Verband gespendet. Das bringt zwar endlich das dringend benötigte Geld, stößt aber viele Mitglieder vor den Kopf. Die glamourösen Veranstaltungen passen nicht zu ihrem Selbstverständnis. Die Mitglieder fühlen sich dem Paritätischen in Bayern weniger verbunden: „Eine deutliche Lockerung wurde spürbar“, wird sich Vorstandsmitglied Anna Heim-Pohlmann später an die Stimmung im Verband erinnern.[12]
Arbeit unter erschwerten Bedingungen
Die Mitgliedsorganisationen und -einrichtungen des Paritätischen in Bayern versuchen, trotz der schwierigen Lage ihren Aufgaben gerecht zu werden. Gerade jetzt brauchen viele Menschen Unterstützung. Der Verband möchte insbesondere Müttern eine kurze Verschnaufpause von den Lasten des Alltags ermöglichen. Dabei setzt er auf die Zusammenarbeit seiner Mitgliedsorganisationen: Der Verein Waldheim für die Münchner Taubstummen stellt sein Haus für die Müttererholung zur Verfügung. Die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten hilft Familien im Haushalt, die wegen einer Erholungskur zeitweise auf ihre Mutter verzichten müssen.[13] Auch für Kinder werden Kuraufenthalte organisiert.[14]
Außerdem ist der Paritätische in Bayern nach wie vor besonders in der „Altersfürsorge“ aktiv. In Augsburg, Bamberg, Landsberg, München und Nürnberg bieten Mitgliedsorganisationen offene Angebote für ältere Menschen an. Der Verband veranstaltet eine „Altershilfe-Lotterie“, um das finanziell unterstützen zu können.[15]
„Paritätische Wohlfahrtsarbeit im Sinne der nationalen Erhebung“
Ein Blick nach Berlin: Im November 1932 gibt der Gründer und Vorsitzende des Fünften Wohlfahrtsverbands, Leo Langstein, eine große Veränderung bekannt. Der reichsweite Verband heißt ab sofort: Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband. Dadurch soll endlich dem „lang empfundenen Bedürfnis, das Wesen des Verbandes in seinem Namen zu kennzeichnen“, entsprochen werden.[16] Der Dachverband folgt somit dem Beispiel seines bayerischen Landesverbands, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband Bayern. Die Namensänderung wird eine der letzten großen Amtshandlungen des Vorsitzenden Leo Langstein sein. Am 30. Januar 1933 wird Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die Umgestaltung des Landes nach nationalsozialistischen Prinzipien ist jetzt in vollem Gang.
Am 29. April 1933 kommt in Berlin der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband zu seiner jährlichen Vorstandssitzung zusammen. Der Vorstand hält fest, dass „der Verband auf nationalem und christlichem Boden stehend seine paritätische Wohlfahrtsarbeit im Sinne der nationalen Erhebung weiter verfolgen soll“.[17] Eine Neuerung: Mit der „nationalen Erhebung“ ist der Nationalsozialismus gemeint. Von der paritätischen Idee, wie Luise Kiesselbach sie 1924 in München formuliert hat, ist nicht mehr viel übrig. Der jüdische Kinderarzt Leo Langstein tritt daraufhin vom Vorsitz des Reichsverbands zurück. Sein Nachfolger wird der schon aus Bayern bekannte Albrecht von Pechmann.[18] Der kommt bald ins Gespräch mit dem Leiter der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV), Erich Hilgenfeldt. Die NSV ist jetzt die offizielle Organisation „für alle Fragen der Volkswohlfahrt und der Fürsorge“.[19]
Das vorläufige Ende des Paritätischen
Anfang Juli 1933 ist die Übernahme des Paritätischen in die NSV beschlossene Sache. Die Landesverbände sollen dafür sorgen, dass die Mitgliedsorganisationen sich ruhig verhalten und den Plänen nicht im Weg stehen.[20] In Bayern scheint das zu funktionieren:
Im Herbst 1933 bekommt der Paritätische eine neue Satzung. Er ist jetzt offiziell Teil der NSV und streng hierarchisch organisiert. Wer Mitglied werden möchte, muss nachweisen, dass er „nur im Sinne der national-sozialistischen Weltanschauung arbeiten wird.“[21] Am 30. Mai 1934 ordnet Erich Hilgenfeldt, der mittlerweile auch das neue Amt für Volkswohlfahrt leitet, endgültig das Ende des Paritätischen an. Er beauftragt Albrecht von Pechmann damit, sich um die Auflösung des Reichsverbands und des Landesverbands Bayern zu kümmern.[22] Was jetzt aus den einzelnen Menschen, Organisationen und Einrichtungen wird, die den Paritätischen in Bayern bisher ausgemacht haben, ist sehr unterschiedlich. Ihren gemeinsamen Verband gibt es nicht mehr. Er hatte nur 10 Jahre lang Bestand.
Quellen und Literatur
Quellen:
- Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Schreiben von Leo Langstein betreffend Namensänderung des Fünften Wohlfahrtsverbands, 10.11.1932.
- Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Satzung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, 9.10.1933.
- Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., NSDAP Reichsleitung, Amt für Volkswohlfahrt, Anordnung V/13/34, 30. Mai 1934.
- Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Slg Varia 2087, Geschichtlicher Umriß über Gründung und Entwicklung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Manuskript des Geschäftsführers Dr. med. Otto von Holbeck. Ergänzungen hierzu über den Landesverband Bayern von Frau Dr. A. Heim-Pohlmann, 15.7.1963.
- Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (Hg.): Bericht der Geschäftsführung für das Jahr 1933 und das erste Halbjahr 1934.
- Dr. d’H.: Oertliche Erholungsfürsorge, in: Nachrichtenblatt des Fünften Wohlfahrtsverbandes (1932) Heft 1, S. 5-6.
- Staatsarchiv Ludwigsburg, E 191 Bü 6539, S. 118-199, Rundschreiben Nr. 30/33 des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, 6.5.1933.
- Staatsarchiv Ludwigsburg, E 191 Bü 6539, S. 105-106, Rundschreiben Nr. 38/33 des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, 6.6.1933.
- O. A.: Nachrichten aus den Landesverbänden. Landesverband Bayern, in: Nachrichtenblatt des Fünften Wohlfahrtsverbandes (1932) Heft 4, S. 27 f.
Literatur:
- Gotto, Bernhard: Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933-1945, München 2006.
- Hammerschmidt, Peter: Die Wohlfahrtsverbände im NS-Staat. Die NSV und die konfessionellen Verbände Caritas und Innere Mission im Gefüge der Wohlfahrtspflege des Nationalsozialismus, Wiesbaden 1999.
- Hoser, Paul: Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), 1920-1923/1925-1945, in: Historisches Lexikon Bayerns (http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Nationalsozialistische_Deutsche_Arbeiterpartei_(NSDAP),_1920-1923/1925-1945, Stand: 12.2.2007, aufgerufen 23.1.2024).
- Niess, Wolfgang: Der Hitlerputsch 1923. Geschichte eines Hochverrats, München 2023.
- Rudloff, Wilfried: Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910-1933, Bd. 2, Göttingen 1998.
- Stäbler, Wolfgang: Weltwirtschaftskrise, 1929, in: Historisches Lexikon Bayerns (https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Weltwirtschaftskrise,_1929, Stand: 4.9.2007, aufgerufen 23.1.2024).
Einzelnachweise
- ↑ Vgl. Hoser, Paul: Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), 1920-1923/1925-1945, in: Historisches Lexikon Bayerns (http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Nationalsozialistische_Deutsche_Arbeiterpartei_(NSDAP),_1920-1923/1925-1945, Stand: 12.2.2007, aufgerufen 23.1.2024.
- ↑ Vgl. Hammerschmidt, Peter: Die Wohlfahrtsverbände im NS-Staat. Die NSV und die konfessionellen Verbände Caritas und Innere Mission im Gefüge der Wohlfahrtspflege des Nationalsozialismus, Wiesbaden 1999, S. 102-106.
- ↑ Vgl. Rudloff, Wilfried: Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910-1933, Bd. 2, Göttingen 1998, S. 888 f.
- ↑ Vgl. Gotto, Bernhard: Nationalsozialistische Kommunalpolitik. Administrative Normalität und Systemstabilisierung durch die Augsburger Stadtverwaltung 1933–1945, München 2006, S. 31.
- ↑ Vgl. Rudloff: Die Wohlfahrtsstadt, S. 898 f.
- ↑ Vgl. Stäbler, Wolfgang: Weltwirtschaftskrise, 1929, in: Historisches Lexikon Bayerns (https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Weltwirtschaftskrise,_1929, Stand: 4.9.2007, aufgerufen 23.1.2024).
- ↑ O. A.: Nachrichten aus den Landesverbänden. Landesverband Bayern, in: Nachrichtenblatt des Fünften Wohlfahrtsverbandes (1932) Heft 4, S. 27 f.
- ↑ Ebd.
- ↑ Zitiert nach: Niess, Wolfgang: Der Hitlerputsch 1923. Geschichte eines Hochverrats, München 2023, S. 249.
- ↑ Niess: Der Hitlerputsch, S. 250.
- ↑ BayHStA, Slg Varia 2087, Geschichtlicher Umriß über Gründung und Entwicklung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Manuskript des Geschäftsführers Dr. med. Otto von Holbeck. Ergänzungen hierzu über den Landesverband Bayern von Frau Dr. A. Heim-Pohlmann, 15.7.1963.
- ↑ Ebd.
- ↑ Vgl. Dr. d’H.: Oertliche Erholungsfürsorge, in: Nachrichtenblatt des Fünften Wohlfahrtsverbandes (1932) Heft 1, S. 5-6.
- ↑ Vgl. Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (Hg.): Bericht der Geschäftsführung für das Jahr 1933 und das erste Halbjahr 1934, S. 10.
- ↑ Vgl. Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (Hg.): Bericht der Geschäftsführung für das Jahr 1933 und das erste Halbjahr 1934, S. 14.
- ↑ Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Schreiben von Leo Langstein betreffend Namensänderung des Fünften Wohlfahrtsverbands, 10.11.1932.
- ↑ StAL E 191 Bü 6539, S. 118, Rundschreiben Nr. 30/33 des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, 6.5.1933.
- ↑ Ebd.
- ↑ Vgl. StAL E 191 Bü 6539, S. 105-106, Rundschreiben Nr. 38/33 des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, 6.6.1933.
- ↑ Vgl. ebd.
- ↑ Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., § 4 Satzung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes vom 9.10.1933.
- ↑ Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., NSDAP Reichsleitung, Amt für Volkswohlfahrt, Anordnung V/13/34, 30. Mai 1934.
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