Eine wechselvolle Geschichte: Selbsthilfe im Paritätischen in Bayern
Als in der Bundesrepublik eine neue Selbsthilfebewegung entsteht, wirft das im Paritätischen in Bayern viele Fragen auf. Der Verband muss sich entscheiden: Will er die neue Bewegung unterstützen, oder an den alten Vorstellungen von Wohlfahrtspflege festhalten?
Tabuthema Selbsthilfe
1957 legt der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband in seinen „Grundsätzen über die Mitgliedschaft“ fest, dass im Verband „keine Selbsthilfeorganisationen und Interessensverbände Aufnahme finden“ können.[1] Das gilt auch für den Paritätischen in Bayern. Die paritätischen Landesverbände dürfen nur mit Erlaubnis des Gesamtverbands neue Mitglieder aufnehmen. Darüber hat es monatelang Diskussionen gegeben. Ein Grund dafür war die Entscheidung des Paritätischen in Bayern, das Sudetendeutsche Sozialwerk als Mitgliedsorganisation aufzunehmen. Mit den neuen Grundsätzen soll klar sein: Der Paritätische ist ein Wohlfahrts- und kein Selbsthilfeverband.
Dabei ist Selbsthilfe im Paritätischen kein neues Thema. Schon in den 1920er Jahren, der Zeit der Weltwirtschaftskrise, gehörte sie zum Verband. Selbsthilfe bedeutete damals, dass sich Menschen mit ähnlichen Lebensumständen zusammentaten, um sich gegenseitig zu helfen – mit Geld und anderen Dingen, die man im täglichen Leben braucht. Ein Beispiel dafür ist der Deutsche Notbund geistiger Arbeiter in Bayern.[2] Der teilte bald das Schicksal der meisten Selbsthilfeorganisationen in Deutschland: Er wurde im Nationalsozialismus aufgelöst. Wohlfahrtspflege ist seitdem eine Sache der „Einrichtungen und Anstalten“.[3]
Tiefgreifende Veränderungen
In den 1950er und 60er Jahren verändert sich die Gesellschaft in der Bundesrepublik mehr und mehr. Vielen Menschen geht es durch das starke Wirtschaftswachstum besser als je zuvor. Sie können sich weiterbilden und mit politischen und sozialen Themen beschäftigen, weil sie sich um das, was man zum täglichen Leben braucht, weniger Sorgen machen müssen.[4] Die Menschen fangen an, neue Vorstellung davon zu entwickeln, wie sie leben möchten. Bald entsteht eine neue Selbsthilfebewegung. Sie zielt nicht mehr nur auf die Lösung von Problemen im Alltag ab. Die Menschen stellen politische Forderungen an den Sozialstaat.[5] Das wird auch den Paritätischen in Bayern verändern.
Der Verband muss umdenken
Ab dem Ende der 1950er Jahre schließen sich Eltern von Kindern mit verschiedenen Behinderungen zusammen. Sie wollen ihre Interessen gemeinsam vertreten. Auch in anderen Teilen der Bundesrepublik entstehen solche Initiativen. Sie bringen die Führungspersonen des Paritätischen Gesamtverbands zum Nachdenken: Wo verlaufen die Grenzen zwischen einer „Selbsthilfeorganisation“, einem „Interessenverband“ und einer „Wohlfahrtsorganisation“?[6] Immer wieder wird diese Frage diskutiert.[7] Sie ist wichtig, denn Selbsthilfeorganisationen will der Verband nicht unterstützen. So steht es nach wie vor in seinen Grundsätzen.
1964 wird Bernhard Uffrecht Geschäftsführer des Paritätischen in Bayern. Er möchte mehr Menschen dazu bewegen, sich sozial zu engagieren. Deshalb setzt er sich für die Förderung von Nachbarschaftshilfen ein. Auch Selbsthilfegruppen will er unterstützen. Er fordert ein Umdenken innerhalb der Sozialen Arbeit. Sein Ziel: Eine „Sozialarbeit [...], die sich als Begleitung eines Prozesses der Selbsthilfe versteht“.[8] Dafür macht er viel Werbung.
Neben der sogenannten Behindertenbewegung entstehen jetzt immer mehr Zusammenschlüsse von Menschen, die sich gegenseitig helfen und gemeinsam ihre Interessen vertreten wollen: Eltern, die sich eine bessere Betreuung ihrer Kinder wünschen, Frauen und Homosexuelle formieren sich zu eigenen Selbsthilfebewegungen.
Viele Wege führen zur Selbsthilfe
Es sind persönliche Erfahrungen, die zur Entstehung der Selbsthilfebewegungen führen. 1971 wird Gerhard Englert in München bei einer Notoperation der Dünndarm entfernt. Der Physiker ist Mitte 30 und muss plötzlich mit einem künstlichen Darmausgang leben, einem sogenannten Stoma. Ihm ist klar: Sein Leben wird jetzt anders. Aber wie sein Alltag aussehen wird und wie er am besten damit umgeht, darüber bekommt Gerhard Englert kaum Informationen.[9] „Es gab nur wenige Chirurgen in Deutschland, die sich bei der Anlage eines Stomas der Verantwortung für [...] das zukünftige gesellschaftliche Leben des Betroffenen bewusst waren“, wird er sich später erinnern.[10] Gerhard Englert ist nicht allein: Die Medizin hat sich weiterentwickelt und bietet Lösungen für viele Probleme. Aber die persönliche Betreuung von Patient*innen bleibt oft auf der Strecke.[11] Deswegen gibt es bald immer mehr Selbsthilfegruppen, in denen sich Patient*innen organisieren.
Gerhard Englert beginnt, sich am Aufbau der Deutschen ILCO zu beteiligen. Die Abkürzung „ILCO“ kommt von den lateinischen Begriffen für Dünn- und Dickdarm, „ileum“ und „colon“. Die Deutsche ILCO tritt 1977 als bundesweite Mitgliedsorganisation in den Paritätischen Gesamtverband ein. Damit ist sie eine Ausnahme: Die meisten Selbsthilfeorganisationen sind kleiner. Sie organisieren sich auf regionaler Ebene und treten den paritätischen Landesverbänden bei – zum Beispiel dem Paritätischen in Bayern.[12]
Ein neuer Schwerpunkt der Verbandsarbeit
Die Selbsthilfegruppen brauchen viel Beratung und Unterstützung. Sie kennen sich in der Wohlfahrtspflege nicht aus.[14] Darauf muss sich der Paritätische in Bayern einstellen. Mitte der 1980er Jahre ist er als der Wohlfahrtsverband mit den meisten Selbsthilfeorganisationen im Freistaat bekannt. Die anderen Wohlfahrtsverbände beobachten die Entwicklung gespannt. Es kommt die Idee auf, die Selbsthilfeorganisationen könnten einen eigenen Wohlfahrtsverband gründen.[15] Aber dazu kommt es nicht, denn mit der Zeit zeigt sich: Selbsthilfeorganisationen passen in die bestehende Struktur der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege – unter dem Dach des Paritätischen in Bayern. Einen von Grund auf neuen Verband brauchen sie nicht.
Die Selbsthilfebewegung etabliert sich im Paritätischen in Bayern. Ingrid Leitner vom Club Behinderter und ihrer Freunde wird stellvertretende Vorsitzende des Verbands. Der Paritätische in Bayern fungiert als Sprachrohr für die Selbsthilfebewegung.[16] Er bringt auch eigenständig Menschen zusammen, damit sie sich vernetzen und organisieren: So lädt er zum Beispiel junge Rheuma-Erkrankte zu gemeinsamen Wochenendseminaren in Feldafing ein.[17]
Im Oktober 1989 verabschiedet der Paritätische neue „Grundsätze der Verbandspolitik“. Schon der erste Satz zeigt, wie sich sein Selbstverständnis verändert hat: „Der Paritätische ist ein Wohlfahrtsverband von eigenständigen Organisationen, Einrichtungen und Gruppierungen der Wohlfahrtspflege, die soziale Arbeit für andere oder als Selbsthilfe leisten“, heißt es jetzt.[18] Das Dokument schließt mit den Worten: „Aufgrund seiner Mitgliederzusammensetzung und seines Verständnisses von Wohlfahrtspflege sieht der Paritätische seine besondere Stellung im Verbund der Spitzenverbände als Sachwalter des eigenständigen sozialen Bürgerengagements und der Selbsthilfe.“[19]
Quellen und Literatur
Quellen:
- Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Grundsätze über die Mitgliedschaft, 6.9.1957.
- Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Niederschrift über die gemeinsame Sitzung des Vorstandes und Beirates des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, 7.10.1964.
- Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Niederschrift über die Sitzung des Beirates, 6.4.1968.
- Borgmann-Quade, Rainer: Selbsthilfe. Entwicklung – Bedeutung für die soziale Arbeit. Referat, gehalten bei der Mitgliederversammlung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Landesverband Bayern e. V., am 29.11.85 in München, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1986) Heft 7/8, S. 106-109.
- Flierl, Hans: Die freie Wohlfahrtspflege. Materialien zu Aufgaben und Entwicklungstendenzen, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1985) Heft 8/9, S. 101-120.
- Geschäftsführender Vorstand des Fünften Wohlfahrtsverbands (Hg.): Verzeichnis der dem Fünften Wohlfahrtsverband angeschlossenen Einrichtungen der geschlossenen, halboffenen und offenen Gesundheits-, Erziehungs- und Wirtschaftsfürsorge nebst Personal-Verzeichnis des Vorstandes, der Landes- und Provinzialvertretungen usw. Berlin 1930.
- Leitner, Ingrid: Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeprojekte im sozialen Bereich. Referat von Dr. Ingrid Leitner, gehalten bei einer Vortragsveranstaltung der Bank für Sozialwirtschaft am 11. Juni 1986 in München zum Thema „Entwicklung der Freien Wohlfahrtspflege“, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1986) Heft 7/8, S. 103-106.
- O. A.: Der Landesverband Bayern des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, München 1960.
- O. A.: Anmerkungen eines Beteiligten zur Entwicklung der Selbsthilfeorganisation Deutsche ILCO, in: ILCO PRAXIS (2013) Nr. 1, S. 8.
- O. A.: Seminar mit jungen Rheumakranken, in: DPWV-Nachrichten (1987) Heft 9, S. 132.
- O. A.: Grundsätze der Verbandspolitik des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1989) Heft 12, S. 137—139.
- PARITÄTISCHER Wohlfahrtsverband, Landesverband Bayern e.V.: 60 Jahre PARITÄTISCHER in Bayern, München 2008.
- Uffrecht, Bernhard: Gemeinwesenarbeit! – Gemeinwensenarbeit? Versuch eines Diskussionsbeitrages zu einem aktuellen Thema, in: DPWV-Nachrichten (1974) Heft 1/2, S. S. 10-11.
- Zeitzeugengespräch mit Gerhard Englert am 16. Juni 2022.
Literatur:
- Badura, Bernhard/von Ferber, Christian (Hg.): Selbsthilfe und Selbstorganisation im Gesundheitswesen. Die Bedeutung nicht-professioneller Sozialysteme für Krankheitsbewältigung und die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen, München 1981.
- Merchel, Joachim: Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband. Seine Funktion im korporatistisch gefügten System sozialer Arbeit, Weinheim 1988.
- Siegfried, Detlef: 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018.
- Von Hauff, Michael: Neue Selbsthilfebewegung und staatliche Sozialpolitik. Eine analytische Gegenüberstellung. Stuttgart 1987.
Einzelnachweise
- ↑ Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Grundsätze über die Mitgliedschaft, 6.9.1957.
- ↑ Vgl. Geschäftsführender Vorstand des Fünften Wohlfahrtsverbands (Hg.): Verzeichnis der dem Fünften Wohlfahrtsverband angeschlossenen Einrichtungen der geschlossenen, halboffenen und offenen Gesundheits-, Erziehungs- und Wirtschaftsfürsorge nebst Personal-Verzeichnis des Vorstandes, der Landes- und Provinzialvertretungen usw. Berlin 1930, S. 30.
- ↑ Satzung, in: O. A.: Der Landesverband Bayern des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, München 1960, S. 3.
- ↑ Vgl. Siegfried, Detlef: 1968. Protest, Revolte, Gegenkultur, Ditzingen 2018, S. 13-20.
- ↑ Vgl. Von Hauff, Michael: Neue Selbsthilfebewegung und staatliche Sozialpolitik. Eine analytische Gegenüberstellung. Stuttgart 1987, S.5-8.
- ↑ Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Niederschrift über die gemeinsame Sitzung des Vorstandes und Beirates des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, 7.10.1964, S. 7.
- ↑ Vgl. bspw. Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Niederschrift über die Sitzung des Beirates, 6.4.1968.
- ↑ Uffrecht, Bernhard: Gemeinwesenarbeit! – Gemeinwensenarbeit? Versuch eines Diskussionsbeitrages zu einem aktuellen Thema, in: DPWV-Nachrichten (1974) Heft 1/2, S. 11.
- ↑ Zeitzeugengespräch mit Gerhard Englert am 16. Juni 2022.
- ↑ Zitiert nach: O. A.: Anmerkungen eines Beteiligten zur Entwicklung der Selbsthilfeorganisation Deutsche ILCO, in: ILCO PRAXIS (2013) Nr. 1, S. 8.
- ↑ Vgl. Badura, Bernhard/von Ferber, Christian (Hg.): Selbsthilfe und Selbstorganisation im Gesundheitswesen. Die Bedeutung nicht-professioneller Sozialysteme für Krankheitsbewältigung und die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen, München 1981, S.2.
- ↑ Zeitzeugengespräch mit Gerhard Englert am 16. Juni 2022.
- ↑ Vgl. PARITÄTISCHER Wohlfahrtsverband, Landesverband Bayern e.V.: 60 Jahre PARITÄTISCHER in Bayern, München 2008, S. 42.
- ↑ Vgl.: Merchel, Joachim: Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband. Seine Funktion im korporatistisch gefügten System sozialer Arbeit, Weinheim 1988, S. 169-198.
- ↑ Vgl. Flierl, Hans: Die freie Wohlfahrtspflege. Materialien zu Aufgaben und Entwicklungstendenzen, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1985) Heft 8/9, S. 107.
- ↑ Vgl. bspw. Leitner, Ingrid: Selbsthilfegruppen und Selbsthilfeprojekte im sozialen Bereich. Referat von Dr. Ingrid Leitner, gehalten bei einer Vortragsveranstaltung der Bank für Sozialwirtschaft am 11. Juni 1986 in München zum Thema „Entwicklung der Freien Wohlfahrtspflege“, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1986) Heft 7/8, S. 103-106; Borgmann-Quade, Rainer: Selbsthilfe. Entwicklung – Bedeutung für die soziale Arbeit. Referat, gehalten bei der Mitgliederversammlung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Landesverband Bayern e. V., am 29.11.85 in München, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1986) Heft 7/8, S. 106-109.
- ↑ Vgl. O. A.: Seminar mit jungen Rheumakranken, in: DPWV-Nachrichten (1987) Heft 9, S. 132.
- ↑ O. A.: Grundsätze der Verbandspolitik des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1989) Heft 12, S. 137.
- ↑ O. A.: Grundsätze, S. 139.
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