„Nachbarn helfen sich selbst“: Kreative Lösungen für neue Wohn- und Lebensverhältnisse
Ab den 1960er Jahren setzt sich der Paritätische in Bayern wie niemand sonst für die Gründung von Nachbarschaftshilfen ein. In neu entstehenden Wohnsiedlungen liefern Freiwillige Essen aus, leisten Altenpflege und organisieren Kinderbetreuung. Es ist der Höhepunkt einer Entwicklung hin zu mehr ambulanten Angeboten, die Menschen im Alltag helfen können.
Neue Siedlungen mit neuen Problemen
In der jungen Bundesrepublik herrscht in vielen Großstädten Wohnungsnot. Die Gründe: Kriegsschäden aus dem Zweiten Weltkrieg und eine enorme Bevölkerungszunahme – durch viele Geburten, eine steigende Lebenserwartung und Zuwanderung. Allein für München wird 1960 errechnet, dass bis 1966 über 120.000 neue Wohnungen gebaut werden müssen, um alle Menschen in der Stadt unterzubringen. Um das zu schaffen, wird ein „Gesamtplan zur Behebung der Wohnungsnot in München“ erarbeitet.[1] Bald entstehen innerhalb kürzester Zeit ganze Stadtteile wie aus dem Nichts.
Einkaufsmöglichkeiten und Verkehrsanbindungen werden bei den großen Bauprojekten mitgedacht. Aber Menschen brauchen mehr zum Leben: Vor allem soziale Einrichtungen der Altenhilfe, Krankenpflege und Kinderbetreuung fehlen. Die Kommunen können mit dem Tempo der großen Bauunternehmen nicht Schritt halten.[2] Das ist vor allem ein Problem für ältere und kranke Menschen. Auch alleinerziehende Mütter und ihre Kinder und junge Menschen finden wenig Anlaufstellen.[3] Das Ergebnis: Vereinsamung und Anonymität sind bekannte Phänomene in den neuen Großsiedlungen.
Sozialstationen und „Essen auf Rädern“
Eine erste Lösung dieser Probleme sind sogenannte Sozialstationen: Hier bieten ausgebildete Angestellte ambulante Pflege an. Die Stationen sind aber schnell überlastet. Daher fördert der Paritätische Gesamtverband schon seit dem Ende der 1950er Jahre die Zusammenarbeit zwischen professioneller Pflege und ehrenamtlicher Hilfe. Der Verband hält Fachtagungen und Schulungen ab und fordert finanzielle Unterstützung durch die verschiedenen Landesregierungen.[4]
Zu Beginn der 1960er Jahre startet der Paritätische in Bayern ein neues Projekt nach englischem Vorbild: Essen auf Rädern. In zwei Münchner Einrichtungen des Verbands, die ohnehin über eine Küche verfügen, wird jetzt für Menschen gekocht, die sich nicht selbst versorgen können. Das Essen wird ihnen nach Hause gebracht. Für vereinsamte Menschen entsteht so auch eine Art Besuchsdienst.[5] Oft ist für sie schon der Weg zur nächsten Telefonzelle zu weit. Die Belieferung durch Essen auf Rädern stellt für sie den einzigen sozialen Kontakt im Alltag dar.[6]
Das Projekt kommt sehr gut an. Es wird von den Medien und der Stadt interessiert verfolgt und unterstützt.[7] Bald kann der Paritätische in Bayern Essen auf Rädern auch in anderen bayerischen Städten anbieten, zum Beispiel in Würzburg und Augsburg.[8]
„Nachbarn helfen sich selbst“ – und die Eheleute Uffrecht helfen ihnen dabei
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Es ist besonders der Geschäftsführer des Paritätischen in Bayern, Bernhard Uffrecht, der sich jetzt für die Entwicklung und Unterstützung von Angeboten wie Essen auf Rädern einsetzt. Er erkennt: In den neuen Siedlungen braucht es einen strukturierenden Taktgeber, der ehrenamtlich Helfende zusammenbringt und berät.[9] Durch seine Frau Jutta kennt Bernhard Uffrecht das Konzept der Nachbarschaftshilfen. Jutta Uffrecht hat es während ihres Studiums in den USA kennengelernt.[10] Bernhard Uffrecht will das Konzept auch in Bayern und ganz Deutschland etablieren. Er veröffentlicht Leitfäden zur Gründung von Nachbarschaftshilfen und nimmt persönlich Kontakt zu Politikern auf, damit sie die Idee fördern.
Auch innerhalb des Paritätischen rührt Bernhard Uffrecht fleißig die Werbetrommel. Dabei ist ihm wichtig, dass das Konzept richtig verstanden wird: Die Umsetzung der Nachbarschaftshilfe muss von den Menschen getragen werden, die in der betroffenen Nachbarschaft wohnen. Der Paritätische soll nur eine strukturierende Rolle einnehmen und ihnen bei der Organisation beratend unter die Arme greifen. So will Bernhard Uffrecht die Motivation der Freiwilligen sicherstellen. Ohne die geht es nicht.[11]
Die Uffrechts stehen zahlreichen Nachbarschaftshilfen ganz persönlich zur Seite. Über Jutta Uffrecht schreibt eine Münchner Zeitung 1972: „Wenn irgendwo in bayerischen Landkreisen ein soziales Problem auftaucht, dann fragt man sie um Rat.“[12] Die Nachbarschaftshilfe Taufkirchen, die 1972 gegründet wird, wird Bernhard Uffrecht später als ihren „wichtigsten Mentor in der Gründungszeit“ in Erinnerung behalten.[13]
Unterstützung und Beratung über Verbandsgrenzen hinaus
Bernhard Uffrecht sieht die Nachbarschaftshilfen nicht als Konkurrenz zu professionellen Sozialstationen. Er glaubt aber, dass sie sich insbesondere in den neuen Wohnsiedlungen gut eignen, um bisher fehlende Strukturen zu ersetzen. Ihm ist es wichtig, „lebensnahe Lösungen“ zu finden, die Menschen dazu motivieren, sich in ihrer eigenen Nachbarschaft sozial zu engagieren.[14] Dass es dafür viel Potenzial gibt, sieht er nicht zuletzt an dem starken Zulauf, den das Freiwillige Soziale Jahr zu dieser Zeit erfährt.
Bernhard Uffrechts Argumente sind überzeugend. Im November 1973 beschließt der Bayerische Landtag: „Die Staatsregierung wird ersucht, im Rahmen der Entwicklung von Modellen zur Versorgung der Bevölkerung mit ambulanten Diensten in der Familien-, Kranken- und Altenpflege in Bayern auch die Entwicklung von Nachbarschaftshilfen in geeigneter Form zu unterstützen.“[15] Die Unterlagen des Bayerischen Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung zeigen: Das ist ein Erfolg, der ohne den persönlichen Einsatz von Bernhard Uffrecht kaum möglich gewesen wäre.
Der Paritätische in Bayern bietet mittlerweile eine einzigartige Beratung und Betreuung von Nachbarschaftshilfen an. Dabei unterstützt er nicht nur Gruppen, die sich dem eigenen Verband anschließen möchten. Seine Beratung – zum Beispiel in Form von Seminaren, Einzelgesprächen und schriftlicher Auskunft – ist „verbandsneutral“.[16] Anfragen kommen bald nicht nur aus der ganzen Bundesrepublik, sondern auch aus dem Ausland.[17]
Ein Erfolgskonzept
An vielen Orten in Bayern finden sich im Verlauf der 1970er Jahre engagierte Nachbar*innen zusammen. Gerade in den schnell wachsenden Neubauvierteln in und um München entstehen neue Nachbarschaftshilfen. Die Schwerpunkte ihrer Arbeit liegen in der Kinderbetreuung, in der Altenpflege und in der Haushaltshilfe. In Oberschleißheim wird so zum Beispiel allein im Gründungsjahr 1970 in fast 100 Fällen Hilfe geleistet. Freiwillige bieten hier unter anderem Hausaufgabenhilfen an und unterstützen Menschen mit Gehbehinderungen dabei, von A nach B zu kommen.[18]
Allein bis 1977 gründen sich in Bayern 44 Nachbarschaftshilfen. Im Großraum München gibt es allein 37. Zusammen leisten die Gruppen 120.000 Stunden nachbarschaftliche Hilfe im Jahr.[19] Und die Entwicklung geht weiter. Auch in den 1980er Jahren entstehen neue Nachbarschaftshilfen. Sie sind ein wichtiger Baustein, mit dem der Paritätische in Bayern Bürgerschaftliches Engagement fördert.
Quellen und Literatur
Quellen:
- Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Niederschrift über die Arbeitstagung über Fragen der Hauspflegearbeit, 9. Oktober 1958.
- Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Niederschrift über die Vorstandssitzung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes am Dienstag, dem 24. August 1971, 9.30 Uhr, im Wilhelm-Polligkeit-Institut, Frankfurt am Main.
- Bayerisches Hauptstaatsarchiv, MArb 11660, Akten des Bayerischen Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung über Sozialdienste und Nachbarschaftshilfekreise, 1972-1977.
- Bayerischer Landtag, 7. Wahlperiode, Drucksache 7/5434, 29.11.1973.
- Nachbarschaftshilfe Taufkirchen (Hg.): 50 Jahre Nachbarschaftshilfe Taufkirchen e.V. Soziales Engagement für ein lebenswertes Miteinander, Taufkirchen 2022.
- O. A.: Der Landesverband Bayern e.V., in: DPWV-Nachrichten (1965) Heft 8, S. 117.
- O. A.: Mitgliederversammlung, in: DPWV-Nachrichten (1967) Heft 8, S. 117.
- O. A.: Jahresbericht, in: DPWV-Nachrichten (1976) Heft 5, S. 67.
- O. A.: Nachbarschaftshilfe Oberschleißheim, in: DPWV-Nachrichten (1971) Heft 8, S. 116.
- O. A.: Freistaat Bayern sichert seine Unterstützung zu. Nachbarschaftshilfe hat Bewährungsprobe bestanden, in: parität Aktuell (1979) Nr. 1, o. S.
- Stepart, Marianne: Eine Preußin hilft den Bürgern helfen. Jutta Uffrecht arbeitete an der Gründung eines Sozialdienstes mit, in: Münchner Merkur 19.6.1972.
- Zapf, Katrin/Heil, Karolus/Rudolph Justus: Stadt am Stadtrand. Eine vergleichende Untersuchung in vier Münchner Neubausiedlungen, Frankfurt/Main 1969.
Literatur:
- Bertels, Lothar: Neue Nachbarschaft. Soziale Beziehungen in einer Neubausiedlung als Folge von Initiativenarbeit, Frankfurt am Main Main/New York 1987.
- Brendebach, Christine: Nachbarschaftshilfe, in: Ross, Friso/Rund, Mario/Steinhaußen, Jan (Hg.): Alternde Gesellschaften gerecht gestalten. Stichwörter für die partizipative Praxis, Opladen/Berlin/Toronto 2019, S. 119-132.
- Krämer, Steffen: Von der Entlastungsstadt Perlach zur Messestadt Riem. Städte- und Siedlungsbau in München 1960-2000, in: Albrecht, Stephan/Höppl, Martin (Hg.): München – Stadtbaugeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Petersberg 2016, S. 275-292.
- Poppe, Mogens: Ambulante Versorgung zu hause oder stationäre Betreuung im Heim? Lebenssituation und Lebensqualität hilfs- und pflegebedürftiger alter Menschen im Vergleich zwischen Heimbewohnerinnen und ambulant betreuten Empfängerinnen von „Essen auf Rädern“, Hamburg 1989.
Einzelnachweise
- ↑ Krämer, Steffen: Von der Entlastungsstadt Perlach zur Messestadt Riem. Städte- und Siedlungsbau in München 1960-2000, in: Albrecht, Stephan/Höppl, Martin (Hg.): München – Stadtbaugeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Petersberg 2016, S. 275.
- ↑ Zapf, Katrin/Heil, Karolus/Rudolph Justus: Stadt am Stadtrand. Eine vergleichende Untersuchung in vier Münchner Neubausiedlungen, Frankfurt/Main 1969, S. 9-17.
- ↑ Bertels, Lothar: Neue Nachbarschaft. Soziale Beziehungen in einer Neubausiedlung als Folge von Initiativenarbeit, Frankfurt am Main Main/New York 1987, S. 33-34.
- ↑ DPWV: Niederschrift über die Arbeitstagung über Fragen der Hauspflegearbeit. 9. Oktober 1958, Frankfurt/Main 1958, S. 3.
- ↑ Poppe, Mogens: Ambulante Versorgung zu hause oder stationäre Betreuung im Heim? Lebenssituation und Lebensqualität hilfs- und pflegebedürftiger alter Menschen im Vergleich zwischen Heimbewohnerinnen und ambulant betreuten Empfängerinnen von „Essen auf Rädern“, Hamburg 1989, S. 32-33.
- ↑ Zapf/Heil/Rudolph: Stadt am Stadtrand, S. 298.
- ↑ Vgl. O. A.: Der Landesverband Bayern e.V., in: DPWV-Nachrichten (1965) Heft 8, S. 117.
- ↑ Vgl. O. A.: Mitgliederversammlung, in: DPWV-Nachrichten (1967) Heft 8, S. 117.
- ↑ Brendebach, Christine: Nachbarschaftshilfe, in: Ross, Friso (Hg.): Alternde Gesellschaften gerecht gestalten. Stichwörter für die partizipative Praxis, Opladen/Berlin/Toronto 2019, S. 123.
- ↑ Stepart, Marianne: Eine Preußin hilft den Bürgern helfen. Jutta Uffrecht arbeitete an der Gründung eines Sozialdienstes mit, in: Münchner Merkur 19.6.1972.
- ↑ Vgl. Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Niederschrift über die Vorstandssitzung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes am Dienstag, dem 24. August 1971, 9.30 Uhr, im Wilhelm-Polligkeit-Institut, Frankfurt am Main, S.3.
- ↑ Stepart: Eine Preußin hilft den Bürgern helfen.
- ↑ Nachbarschaftshilfe Taufkirchen (Hg.): 50 Jahre Nachbarschaftshilfe Taufkirchen e.V. Soziales Engagement für ein lebenswertes Miteinander, Taufkirchen 2022, S. 10.
- ↑ BayHStA, MArb 11660, Korrespondenz von Bernhard Uffrecht mit dem Bayerischen Ministerium für Arbeit und Sozialordnung bzgl. Sozialdienste und Nachbarschaftshilfekreise, 1972-1977.
- ↑ Bayerischer Landtag, 7. Wahlperiode, Drucksache 7/5434, 29.11.1973.
- ↑ BayHStA, MArb 11660, Ministerialdirigent Stocker an den Landtagsbeauftragten Regierungsdirektor Müller, 30.5.1973.
- ↑ Vgl. O. A.: Jahresbericht, in: DPWV-Nachrichten (1976) Heft 5, S. 67.
- ↑ O. A.: Nachbarschaftshilfe Oberschleißheim, in: DPWV-Nachrichten (1971) Heft 8, S. 116.
- ↑ O. A.: Freistaat Bayern sichert seine Unterstützung zu. Nachbarschaftshilfe hat Bewährungsprobe bestanden, in: parität Aktuell (1979) Nr. 1, o. S.
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