Raus aus dem „Mauerblümchendasein“: Die Gründung des Paritätischen in Bayern

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Als in der ersten Hälfte der 1920er Jahre Gesetze erlassen werden, die die freie Wohlfahrtspflege stärken sollen, drohen konfessionell und politisch unabhängige Organisationen ins Hintertreffen zu geraten. Dass das nicht passiert, ist der Initiative sozial engagierter Frauen zu verdanken. Mit ihrer Hilfe entsteht 1924 der Paritätische Wohlfahrtsverband Bayern.

Neue Gesetze schaffen neue Verhältnisse

Neue Gesetze wie die Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht vom 13. Februar 1924 legen von Grund auf neu fest, was die Fürsorge in Deutschland in Zukunft leisten soll.[1]

Durch den Ersten Weltkrieg und die schwierige Wirtschaftslage ist die deutsche Fürsorgegesetzgebung zu Beginn der 1920er Jahre zunehmend unübersichtlich geworden. Soziale Notlagen haben immer wieder kurzfristig neue Regelungen erforderlich gemacht. Damit soll ab 1923 Schluss sein: Jetzt werden mehrere Gesetze erlassen, die die Aufgaben der Wohlfahrtspflege von Grund auf neu definieren und verteilen.

Durch die neue Gesetzgebung wird die freie Wohlfahrtspflege gestärkt. Es gilt jetzt das Subsidiaritätsprinzip: Die öffentliche soll die freie Wohlfahrtspflege lediglich ergänzen und nur dort eigene Einrichtungen und Angebote schaffen, wo diese vonseiten der freien Wohlfahrtspflege fehlen. Öffentliche Stellen können ihre Aufgaben außerdem gezielt an freie Träger abgeben. So soll die öffentliche Hand Geld sparen und gleichzeitig ihrer jetzt gesetzlich verankerten Fürsorgepflicht nachkommen können.[2]

Damit die Verbände der freien Wohlfahrtspflege ihrer neuen Rolle gerecht werden können, bekommen sie finanzielle Zuschüsse, die nicht an einen bestimmten Zweck innerhalb der Wohlfahrtspflege gebunden sind. Sie können diese Gelder frei an ihre Mitgliedsorganisationen verteilen. Das bedeutet aber auch: Wer keinem Dachverband angehört, geht potenziell leer aus. Das betrifft vor allem die politisch und kirchlich unabhängigen Einrichtungen und Vereine. Sie haben keinen Spitzenverband, der sie repräsentiert und durch den sie Fördermittel erhalten könnten.[3]

Eine Arbeitsgemeinschaft, die allen zugutekommt

Die Gründerin des Stadtbunds Münchner Frauenvereine, Luise Kiesselbach, hat diese Entwicklung früh erkannt: Schon 1922 hat sie im Stadtbund eine „Arbeitsgemeinschaft paritätischer Wohlfahrtsanstalten, Einrichtungen und Vereine“ ins Leben gerufen, um die Position unabhängiger Wohlfahrtsarbeit in München zu stärken.[4] Die Münchner Fürsorgeverwaltung ist froh über diese „Zusammenfassung der zersplitterten privaten Hilfstätigkeit“ in der Stadt.[5] Sie kann sich an die Arbeitsgemeinschaft wenden und so alle paritätischen Einrichtungen und Vereine im Stadtbund gleichzeitig erreichen.

Der Zusammenschluss bringt allen Beteiligten Vorteile. Deshalb wendet sich das Münchner Wohlfahrtsamt mit einer Bitte an Luise Kiesselbach: Sie soll auch außerhalb des Stadtbunds Münchner Frauenvereine die paritätisch arbeitende Wohlfahrtspflege der Stadt in einer übergeordneten Organisation vereinen.[6] Luise Kiesselbach selbst denkt aber schon über die Grenzen Münchens und Bayerns hinaus.

Reichsweite Vernetzung

Am 17. und 18. März 1924 findet in Mannheim die 13. Generalversammlung des Bundes Deutscher Frauenvereine statt. Einer der Anträge, über die hier abgestimmt wird, stammt vom Hauptverband Bayerischer Frauenvereine. Er „bittet, es möge innerhalb der Bundesvereine ein Zusammenschluss solcher Einrichtungen geschaffen werden, die sich mit Wohlfahrtspflege befassen und auf paritätischer Grundlage arbeiten.“[7] Vorsitzende des Hauptverbandes Bayerischer Frauenvereine ist Luise Kiesselbach. Sie hat somit einen ersten Schritt in Richtung eines deutschlandweiten Paritätischen Wohlfahrtsverbandes getan.


Das Lokal „Zur Krone“ ist nur eine der Einrichtungen des Frauenbundes Nürnberg des Deutschen Vereins gegen den Alkoholismus. Die Organisation veranstaltet außerdem Vorträge und veröffentlicht Artikel, die über die Gefahren von Alkohol aufklären. Sie wird bald zu den frühen Mitgliedsorganisationen des Paritätischen in Bayern gehören.[8]


Neben Luise Kiesselbach, die auch zum engeren Vorstand des Bundes Deutscher Frauenvereine gehört, sind schon zwei weitere Menschen auf die Idee gekommen, konfessionell und politisch unabhängige Wohlfahrtsorganisationen zusammenzubringen. Beide leben in Berlin. Der Kinderarzt Leo Langstein leitet seit 1920 die „Vereinigung der freien privaten gemeinnützigen Kranken- und Pflegeanstalten Deutschlands“. Die Pädagogin Anna von Gierke arbeitet an einem Zusammenschluss von Einrichtungen der freien Jugendfürsorge.

Anna von Gierke gehört auch zum Vorstand des Bundes Deutscher Frauenvereine. Nach der Generalversammlung im März 1924 gründet sie den Verband „Humanitas“ und versucht, ihn zum neuen Spitzenverband für Paritätische Wohlfahrtspflege auszubauen. Währenddessen nimmt Luise Kiesselbach Kontakt zu Leo Langstein auf.[9]

Bayern macht es vor

1928 wird das erste Nachrichtenblatt des Fünften Wohlfahrtsverbandes erscheinen — mit einem Geleitwort von Luise Kiesselbach. Sie gehört zum Vorstand des neuen paritätischen Gesamtverbandes.[10]

Vom 11. bis 14. Juni 1924 veranstaltet der Hauptverband Bayerischer Frauenvereine in München den 10. Bayerischen Frauentag. Es finden zahlreiche öffentliche Vorträge zu sozialen und politischen Themen statt. Außerdem kommen die Mitgliedsorganisationen des Verbandes zu ihrer Generalversammlung zusammen. Dabei steht ein „Arbeitsplan für die Vereine“ auf der Agenda.[11] Er beinhaltet vor allem die Idee, eine bayernweite „Vereinigung aller paritätischer Organisationen, die sich mit Wohlfahrtspflege befassen“, auf die Beine zu stellen.[12] Während auf Reichsebene noch diskutiert wird, wie genau ein Zusammenschluss aller paritätischen Wohlfahrtsorganisationen zustande kommen kann, werden so in Bayern Tatsachen geschaffen: Der neue Verband, der im Rahmen der Versammlung gegründet wird, heißt „Paritätischer Wohlfahrtsverband Bayern“.[13] Er wird auch in Zukunft eng mit der bürgerlichen Frauenbewegung verbunden bleiben.

Auf Reichsebene gehen die Verhandlungen weiter. Luise Kiesselbach steht der „Humanitas“ skeptisch gegenüber. Ihr gefällt der Alleingang der Pädagogin Anna von Gierke nicht.[14] Auch andere fühlen sich von diesem unabgesprochenen Vorstoß übergangen.[15] Weil das Reichsarbeitsministerium „Humanitas“ ebenfalls nicht als neuen Spitzenverband akzeptieren will, muss Anna von Gierke schließlich nachgeben. Am 25. Oktober 1925 wird aus der Humanitas und dem Verband von Leo Langstein der sogenannte Fünfte Wohlfahrtsverband, dem sich der Paritätische Wohlfahrtsverband Bayern anschließt.

Luise Kiesselbach ist mit diesem Ergebnis zufrieden. Im Januar 1926, nach wenigen Monaten im neuen Spitzenverband, wird sie einer anderen Frauenrechtlerin berichten: „Für Bayern habe ich schon alles Mögliche erreicht: Zuschüsse, Darlehen und dergleichen. Ich sehe für die süddeutschen Vereine nur Vorteile in dem Anschluss, insbesondere weil wir in der großen Linie absoluter Neutralität in politischen und konfessionellen Fragen einig gehen.“[16]

Eine vielfältige Mitgliederstruktur – nicht nur in München

Das Wohlfahrtsamt der Stadt München schlägt vor, die Arbeitsgemeinschaft innerhalb des Stadtbundes Münchner Frauenvereine zu einem Ortsverband des neuen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Bayern zu machen und so für neue Mitglieder zu öffnen.[17] Innerhalb weniger Wochen entstehen zwei weitere Ortsverbände: In Augsburg organisiert der örtliche Verein für Fraueninteressen eine Veranstaltung im städtischen Wohlfahrtsamt. Hier hält Luise Kiesselbach ein „vorzügliches Referat“, das fast alle Anwesenden davon überzeugt, sich mit ihren Organisationen dem neuen Verband anzuschließen.[18] Als Geschäftsstelle stellt das Augsburger Wohlfahrtsamt einen Raum zur Verfügung. Ein dritter Ortsverband wird in Nürnberg gegründet.[19]

Luise Kiesselbach macht jetzt viel Werbung für den neuen Verband. „In den letzten Jahren hat die paritätische Wohlfahrtspflege, so verzweigt sie auch war und so vieles sie auch dauernd leistete, ein rechtes Mauerblümchendasein geführt“, schreibt sie in einer Zeitung.[20] Für die Zukunft hält sie fest: „Keine Kraft darf ungenützt bleiben, keine Einrichtung, die einmal geschaffen ist, wieder versanden.“[21] In München sind zu Beginn 35 Vereine und Einrichtungen im Ortsverband des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Bayern organisiert. In Augsburg sind es zusätzliche 21, in Nürnberg 19.[22] Und all das ist erst der Anfang.

Quellen und Literatur

Quellen:

  • 11. Antrag des Hauptverbandes Bayerischer Frauenvereine, in: Bund Deutscher Frauenvereine (Hg.): Nachrichtenblatt (1924) Heft 2, S. 8.
  • Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Akte Humanitas.
  • Helene-Lange-Archiv im Landesarchiv Berlin, B Rep. 235-01 MF-Nr. 2464-2465, Schriftwechsel des engeren Bundesvorstandes des Bundes Deutscher Frauenvereine, 1924-1927.
  • Jahresbericht des Frauenbundes Nürnberg des Deutschen Vereins gegen den Anlkoholismus e.V., in: Nachrichtenblatt des Fünften Wohlfahrtsverbandes (1930) Heft 5, S. 40-41.
  • Kiesselbach, Luise: Der paritätische Wohlfahrtsverband München und Bayern. Eine bedeutsame Gründung, in: Allgemeine Zeitung, 10.11.1924, S. 4.
  • Kiesselbach, Luise: Paritätischer Wohlfahrtsverband Bayern, in: Münchner Neueste Nachrichten, Abend-Ausgabe, 2.6.1925, S. 6.
  • Mitgliederversammlung des Vereins Waldheim für die Münchner Taubstummen e.V., in: Nachrichtenblatt des Fünften Wohlfahrtsverbandes (1930) Heft 2, S. 19.
  • Nachrichtenblatt des Fünften Wohlfahrtsverbandes (1928) Heft 1, S. 1.
  • P. A.: Paritätischer Wohlfahrtsverband Augsburg, in: Allgemeine Zeitung, 16.12.1924, S. 3.
  • Stadtarchiv München, DE-1992-WOHL-2065, Akte Verein Waldheim für Münchner Taubstumme, 1927-1936.
  • Stadtarchiv Nürnberg, A 34 Nr. A34-0617, Postkarte mit Lichtdruck der alkohlfreien Gaststätte „Krone“ am Fünferplatz 4 um 1920.
  • Tafel 1: Die Aufgaben der Fürsorge, in: Rappenecker, Franz: Lehrtafeln zu den Reichsgrundsätzen über Vorraussetzung, Art und Mass der öffentlichen Fürsorge, Freiburg im Breisgau 1927.
  • O. A.: 10. Bayerischer Frauentag, in: Münchner Neueste Nachrichten, 17.6.1924, S. 3.

Literatur:

  • Bußmann-Strelow, Gabriele: Kommunale Politik im Sozialstaat. Nürnberger Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik, Nürnberg 1997.
  • Rudloff, Wilfried: Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910-1933, Bd. 1, Göttingen 1998.
  • Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 bis 1929, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1988.

Einzelnachweise

  1. Tafel 1: Die Aufgaben der Fürsorge, in: Rappenecker, Franz: Lehrtafeln zu den Reichsgrundsätzen über Vorraussetzung, Art und Mass der öffentlichen Fürsorge, Freiburg im Breisgau 1927.
  2. Vgl. Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 bis 1929, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1988, S. 142-172.
  3. Vgl. Bußmann-Strelow, Gabriele: Kommunale Politik im Sozialstaat. Nürnberger Wohlfahrtspflege in der Weimarer Republik, Nürnberg 1997, S. 242 f.
  4. Kiesselbach, Luise: Der paritätische Wohlfahrtsverband München und Bayern. Eine bedeutsame Gründung, in: Allgemeine Zeitung, 10.11.1924, S. 4.
  5. Zitiert nach Rudloff, Wilfried: Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910-1933, Bd. 1, Göttingen 1998, S. 498.
  6. Vgl. Kiesselbach: Der paritätische Wohlfahrtsverband München und Bayern.
  7. 11. Antrag des Hauptverbandes Bayerischer Frauenvereine, in: Bund Deutscher Frauenvereine (Hg.): Nachrichtenblatt (1924) Heft 2, S. 8.
  8. Vgl. Jahresbericht des Frauenbundes Nürnberg des Deutschen Vereins gegen den Anlkoholismus e.V., in: Nachrichtenblatt des Fünften Wohlfahrtsverbandes (1930) Heft 5, S. 40-41.
  9. Vgl. LArch B, B Rep. 235-01 MF-Nr. 2464-2465, Schriftwechsel des engeren Bundesvorstandes des Bundes Deutscher Frauenvereine, 1924—1927.
  10. Nachrichtenblatt des Fünften Wohlfahrtsverbandes (1928) Heft 1, S. 1.
  11. O. A.: 10. Bayerischer Frauentag, in: Münchner Neueste Nachrichten, 17.6.1924, S. 3.
  12. Ebd.
  13. Kiesselbach: Der paritätische Wohlfahrtsverband München und Bayern.
  14. Vgl. LArch B, B Rep. 235-01 MF-Nr. 2464-2465, Schriftwechsel des engeren Bundesvorstandes des Bundes Deutscher Frauenvereine, 1924—1927.
  15. Vgl. Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Akte Humanitas.
  16. Luise Kiesselbach an Emma Ender, 6.1.1926, in: LArch B Rep. 235-01 MF-Nr. 2464-2465, Schriftwechsel des engeren Bundesvorstandes des Bundes Deutscher Frauenvereine, 1924—1927.
  17. Kiesselbach: Der paritätische Wohlfahrtsverband München und Bayern.
  18. P. A.: Paritätischer Wohlfahrtsverband Augsburg, in: Allgemeine Zeitung, 16.12.1924, S. 3.
  19. Vgl. ebd.
  20. Kiesselbach: Der paritätische Wohlfahrtsverband München und Bayern.
  21. Kiesselbach, Luise: Paritätischer Wohlfahrtsverband Bayern, in: Münchner Neueste Nachrichten, Abend-Ausgabe, 2.6.1925, S. 6.
  22. Vgl. ebd.
  23. StdAM, DE-1992-WOHL-2065, Akte Verein Waldheim für Münchner Taubstumme, 1927-1936.
  24. Vgl. Mitgliederversammlung des Vereins Waldheim für die Münchner Taubstummen e.V., in: Nachrichtenblatt des Fünften Wohlfahrtsverbandes (1930) Heft 2, S. 19.

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