Für ein barrierefreies München und ein Leben auf Augenhöhe: Ingrid Leitner

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Ingrid Leitner ist im Laufe ihres Lebens vieles. Sie ist promovierte Kulturredakteurin, Aktivistin, Autorin und stellvertretende Vorsitzende des Paritätischen in Bayern. Sie kämpft dafür, Barrieren für Menschen mit Behinderungen abzubauen, sowohl auf der Straße, als auch in den Köpfen ihrer Mitmenschen.


Ingrid Leitner (ganz rechts) in Aktion: 1995 demonstriert sie mit anderen Rollstuhlfahrenden am Münchner Hauptbahnhof für barrierefreies Reisen mit der Deutschen Bahn.


Plötzlich auf den Rollstuhl angewiesen

Ingrid Leitner, geboren 1942 in München, ist 15 Jahre alt, als sie wegen einer vermeintlich einfachen Grippe zu ihrer Hausärztin geht. Die schickt sie sofort ins Krankenhaus – mit Verdacht auf Kinderlähmung. In der Klinik muss Ingrid Leitner beatmet werden. Das Virus dringt in ihr Rückenmark ein und lähmt sie bald bis zum Hals.[1]

Nach vier Jahren kann Ingrid Leitner das Krankenhaus verlassen. Die Neunzehnjährige sitzt jetzt fast vollständig gelähmt im Rollstuhl. Sie holt ihr Abitur nach, studiert Germanistik, Slawistik und Kunstgeschichte und promoviert über die Literatur der Romantik.[2]

Der Club Behinderter und ihrer Freunde

Ingrid Leitner lebt ihr Leben weiter. Aber es verstört sie, wie sich andere Menschen jetzt ihr gegenüber verhalten: „Ich fand immer, dass ich die gleiche Ingrid war, aber viele Leute fanden das nicht“, wird sie sich später erinnern.[3] Außerdem fällt ihr jetzt auf, dass München voller Barrieren ist. Überall begegnen ihr Treppen, hohe Bordsteine und andere Hürden in der Stadt. Das will sie ändern.[4]

Die mittlerweile 32-Jährige schließt sich mit Gleichgesinnten zusammen. Gemeinsam gründen sie 1974 den Club Behinderter und ihrer Freunde (CeBeeF). „Wir, die Behinderten im Club, wollen nicht karitativ betüttelt werden, sondern ein möglichst normales Leben führen – menschenwürdig, von uns selber geplant und hindernisfrei“, erklärt Ingrid Leitner dazu.[5]

Stellvertretende Vorsitzende des Paritätischen in Bayern

Ingrid Leitner beginnt, beim Radio des Bayerischen Rundfunks als Redakteurin zu arbeiten. Zwei Jahre nach der Gründung des CeBeeF kann sie eine behindertengerechte Wohnung in München-Schwabing beziehen. Die Wohnung gehört der Pfennigparade, einer Mitgliedsorganisation des Paritätischen.[6] So kommt Ingrid Leitner zum ersten Mal mit dem Verband in Kontakt. Nur wenige Wochen später wird auch der CeBeeF Mitglied.[7]

Anfang der 1980er Jahre wird Ingrid Leitner stellvertretende Vorsitzende des Paritätischen in Bayern, in dem jetzt mehr und mehr Selbsthilfeorganisationen wie der CeBeeF Fuß fassen.[8] Sie ist fortan eine wichtige Stimme der Behindertenbewegung im Verband.


1989 erscheint ein Interview mit Ingrid Leitner in der bundesweiten Verbandszeitung des Paritätischen. Hier scheut sie nicht davor zurück, ihre Meinung offen zu äußern und Kritik an der Verbandspolitik zu üben.[9]


Ingrid Leitner übt offen Kritik – sowohl am Verband, als auch an der allgemeinen deutschen Öffentlichkeit. Sie will die Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen sichtbar machen und sie als gleichwertige Menschen verstanden wissen. Auf einer Tagung 1992 erklärt sie: „Dem [Normalbürger] ist ja nach wie vor ‚Behinderung‘ ein nur wenig vertrautes Phänomen. Er hat häufig Angst vor einem, der eingeschränkt ist in seinen Bewegungen, der unter Umständen anders aussieht und der Hilfe braucht [...]. Diese Angst münzt der Normalbürger gerne in Abwehr um. Schlimmer in der Wirkung ist jedoch das Mitleid. Denn es handelt sich kaum je um ein freundschaftliches Mitgefühl, sondern um ein sattes, wenn auch uneingestandenes Gefühl der Überlegenheit.“[10]

Ihre Leidenschaft für Kunst und Kultur gibt Ingrid Leitner nicht auf: Für Mitglieder des CeBeeF bietet sie Führungen durch Münchner Museen an. Als sie 2017 überraschend stirbt, hinterlässt sie eine große Lücke. Den CeBeeF – der sich mittlerweile einfach cbf abkürzt – hat Ingrid Leitner bis zuletzt als Vorstandsmitglied unterstützt.[11] 2019 erscheint posthum ihr autobiographischer Roman „Das Leben der Sternentaucherin“.

Quellen

  • Friedrich, Karin: Eine Behinderte mit viel Schwung. In: Süddeutsche Zeitung 116, 23.5.1978, o.S.
  • Kremer, Moni/Cyrani, Monika: Trauerfeier für Dr. Ingrid Leitner. In: CBF-Clubpost (2017) Nr. 5, o.S. (https://www.cbf-muenchen.de/club-post-blog/club-post-2017/438-2017-05-mai/1251-trauerfeier-fuer-dr-ingrid-leitner, aufgerufen am 2.11.2023).
  • Leitner, Ingrid: Das Leben der Sternentaucherin. Ein poetisch-autobiografischer Roman 2019 Frankfurt am Main.
  • Leitner, Ingrid: Die schlimmste Behinderung ist das Verhalten der Umwelt. Referat, gehalten bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing vom 26.-28. Juni 1992 auf Schloss Schney bei Lichtenfels zum Thema „Im besten Fall Mitglied? Zur sozialen Situation behinderter Menschen“, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1992) Heft 9, S. 91.
  • O. A.: Der Paritätische Wohlfahrtsverband ist die Speerspitze für die „Kleinen“, in: Parität Aktuell (1989) Nr. 3, o. S.
  • O. A.: Der Vorstand des DPWV Bayern e.V, in: Parität Aktuell (1984) Nr. 2, o. S.
  • O. A.: Ingrid Leitner gestorben. Immer engagiert für Behinderte, in: Süddeutsche Zeitung, 21.3.2017 (https://www.sueddeutsche.de/muenchen/ingrid-leitner-gestorben-immer-engagiert-fuer-behinderte-1.3428654, aufgerufen am 2.11.2023).
  • O. A.: Wir stellen vor, in: Parität Aktuel (1976) Nr. 1, o. S.

Einzelnachweise

  1. Leitner, Ingrid: Das Leben der Sternentaucherin. Ein poetisch-autobiografischer Roman 2019 Frankfurt am Main, S. 16-24.
  2. Leitner: Das Leben der Sternentaucherin, Einband.
  3. Friedrich, Karin: Eine Behinderte mit viel Schwung. In: Süddeutsche Zeitung 116, 23.5.1978, o.S.
  4. O. A.: Der Paritätische Wohlfahrtsverband ist die Speerspitze für die „Kleinen“, in: Parität Aktuell (1989) Nr. 3, o. S.
  5. O. A.: Ingrid Leitner gestorben. Immer engagiert für Behinderte, in: Süddeutsche Zeitung, 21.3.2017 (https://www.sueddeutsche.de/muenchen/ingrid-leitner-gestorben-immer-engagiert-fuer-behinderte-1.3428654, aufgerufen am 2.11.2023).
  6. Friedrich: Eine Behinderte mit viel Schwung.
  7. O. A.: Wir stellen vor, in: Parität Aktuel (1976) Nr. 1, o. S.
  8. O. A.: Der Vorstand des DPWV Bayern e.V, in: Parität Aktuell (1984) Nr. 2, o. S.
  9. O. A.: Der Paritätische Wohlfahrtsverband ist die Speerspitze für die „Kleinen“, in: Parität Aktuell (1989) Nr. 3, o. S.
  10. Leitner, Ingrid: Die schlimmste Behinderung ist das Verhalten der Umwelt. Referat, gehalten bei einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing vom 26.-28. Juni 1992 auf Schloss Schney bei Lichtenfels zum Thema „Im besten Fall Mitglied? Zur sozialen Situation behinderter Menschen“, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1992) Heft 9, S. 91.
  11. Kremer, Moni/Cyrani, Monika: Trauerfeier für Dr. Ingrid Leitner. In: CBF-Clubpost (2017) Nr. 5, o.S. (https://www.cbf-muenchen.de/club-post-blog/club-post-2017/438-2017-05-mai/1251-trauerfeier-fuer-dr-ingrid-leitner, aufgerufen am 2.11.2023).

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