Ein steiniger Weg zur Akzeptanz: Queerer Aktivismus im Paritätischen in Bayern

Aus Geschichts-Wiki

Die Aufnahme von Organisationen, die sich explizit an nicht-heterosexuelle Menschen richten, lehnt der Paritätische in Bayern jahrelang ab. Die Führung des Verbands glaubt nicht daran, dass zum Beispiel Homosexuelle sozial benachteiligt sind. Mit dem Aufkommen der Krankheit Aids beginnt ein Umdenken.

Die Gay Liberation Front

In Deutschland stehen homosexuelle Kontakte zwischen Männern lange unter Strafe. Allein zwischen 1950 und 1965 werden in der Bundesrepublik rund 45.000 Menschen deswegen verurteilt.[1] In den folgenden Jahren verändert sich vieles in der Gesellschaft. Sie wird offener. Auch das Sexualstrafrecht wird verändert. Dadurch verbessert sich die rechtliche Lage homosexueller Männer. Gesellschaftlich akzeptiert werden sie aber noch nicht. Viele Menschen entdecken jetzt ihre politische Stimme und organisieren sich in Selbsthilfebewegungen. So entsteht auch eine Schwulenbewegung – nicht zuletzt dank der veränderten Gesetzeslage. Dass das Wort „schwul“ von der Bewegung benutzt wird, ist ein Zeichen: Es war lange eine negativ besetzte Beschreibung. Die Schwulenbewegung eignet sich das Wort jetzt selbstbewusst an.[2]

Die Gay Liberation Front beschreibt für den Paritätischen Gesamtverband, wie die Arbeit der Organisation aussieht. DPWV (Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband) ist die Abkürzung, die der Paritätische Gesamtverband zu dieser Zeit nutzt.

Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband ist zentralistisch organisiert: Wenn ein Verein in einem der Landesverbände Mitglied werden möchte, muss der Gesamtverband in Frankfurt am Main zustimmen. 1972 stellt die Gay Liberation Front aus Köln in Nordrhein-Westfalen einen Aufnahmeantrag. Die Gay Liberation Front ist die erste Organisation der Schwulenbewegung, die dem Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband beitreten möchte. Die Entscheidung, die jetzt gefällt wird, wird Auswirkungen auf alle Landesverbände haben – auch auf den Paritätischen in Bayern. Bei den Beratungen in Frankfurt ist auch Hans Ritter dabei, der Vorsitzende des Paritätischen in Bayern. Er ist gleichzeitig Zweiter Stellvertretender Vorsitzender des Paritätischen Gesamtverbands.

Der Vorstand des Gesamtverbands versteht nicht, wozu die Gay Liberation Front gut sein soll. Er ist sich nicht einig darüber, ob schwule Männer überhaupt Unterstützung brauchen. Der Antrag der Gay Liberation Front wird abgelehnt.[3] Mit dieser Grundsatzentscheidung ist das Thema Schwulenbewegung im Paritätischen für die nächsten Jahre vom Tisch.

Lesbische Frauen werden im Paritätischen in Bayern dagegen akzeptiert. Polina Hilsenbeck ist ein Beispiel dafür. Sie sind aber im Rahmen der Neuen Frauenbewegung aktiv und treten in erster Linie als Feministinnen auf, nicht als Lesben. Innerhalb der Frauenbewegung gibt es immer wieder Konflikte wegen dieser mangelnden Sichtbarkeit.[4]

Eine rätselhafte Krankheit

Die Schwulenbewegung spielt im Paritätischen in Bayern gut zehn Jahre lang keine Rolle. Das ändert sich 1984: Eine kleine Gruppe schwuler Männer beschließt, in München die erste regionale Aids-Hilfe Deutschlands zu gründen.[5] Aids steht für Acquired Immune Deficiency Syndrome, eine viral ausgelöste Schwäche der Abwehrkräfte. Anfang der 1980er Jahre sterben in den USA die ersten Menschen an dieser Krankheit. Sie ist noch völlig unbekannt. Auch in Deutschland gibt es jetzt Tote. Das wirft viele Fragen auf. Antworten gibt es wenige. Die Aids-Hilfe will das ändern: Sie sammelt Informationen und klärt auf. Erkrankte können sich in einer Selbsthilfegruppe austauschen und gegenseitig unterstützen.[6] In den Medien wird Angst geschürt. Das bringt Hass und Vorurteile zutage. Es ist von einer „Homosexuellen-Seuche“ die Rede.[7] Nachdem drei Homosexuelle in Frankfurt am Main an Aids gestorben sind, muss betont werden: Das waren „keine Strichjungen, sondern sehr begüterte Männer“.[8] „Die Berichterstattung in Deutschland war ein Angriff auf unsere Szene und unseren Lebensstil“, wird sich Guido Vael später erinnern.[9] „Wir haben das damals als große Bedrohung empfunden und wollten dem etwas entgegensetzen.“[10] Guido Vael ist einer der sieben Gründer der Münchner Aids-Hilfe.

Die Aids-Hilfen kümmern sich um alle Menschen, die besonders von der Krankheit betroffen sind. Das sind nicht nur Homosexuelle, sondern auch Drogenabhängige und Prostituierte. Mit dieser Ausrichtung passen die Aids-Hilfen gut zum Paritätischen in Bayern. Der vereint mittlerweile viele Selbsthilfeorganisationen, die sich mit einer bestimmten Erkrankung befassen. 1986 werden die Münchner Aids-Hilfe, die Aids-Hilfe Nürnberg-Erlangen-Fürth und die Aids-Hilfe Augsburg in den Verband aufgenommen.[11] Ein Jahr später folgt die Aids-Hilfe Regensburg.[12]




Am 4. April 1987 gehen in München über 10.000 Menschen auf die Straße, um gemeinsam gegen die bayerische Aids-Politik zu demonstrieren. Unter den Redner*innen der Schlusskundgebung ist auch Guido Vael von der Münchner Aids-Hilfe (im Video zu sehen ab Minute 34:30).


Der Paritätische in Bayern wird aktiv

Die Münchner Aids-Hilfe wirbt mit Plakatkampagnen für Spenden, die Akzeptanz von Erkrankten und Aids-Prävention. Dieses Plakat stammt aus dem Jahr 1995.

Anfang April 1987 gründen die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege in Bayern die Arbeitsgruppe „AIDS“. Den Vorsitz übernimmt der Paritätische in Bayern. Das ist für alle selbstverständlich: Er ist der Wohlfahrtsverband, der sich am meisten mit dem Thema beschäftigt.[13] Der Paritätische in Bayern kämpft jetzt an vielen Fronten: Er appelliert an die Soziale Arbeit, die Politik und die gesamte Gesellschaft.[14] „Panik, Angst, Unwissenheit und Hilflosigkeit, Polemisieren und politische Machtkämpfe bedeuten keine Lösung des Problems“, schreibt Gabriele Mikuschka in der Zeitung des Paritätischen Gesamtverbands.[15] Sie ist Referentin für Fortbildung, AIDS und Gesundheit im Paritätischen in Bayern.

Im November 1988 reist Gabriele Mikuschka in die USA. Sie ist Teil einer Studienreise, die vom Paritätischen in Bayern organisiert wird. In New York und San Francisco sollen „Informationen über Prävention und die psychosoziale Betreuung von HIV- und AIDS-Patienten, insbesondere vor dem Hintergrund der Drogen- bzw. Homosexuellen-Szene“ gesammelt werden.[16] Unter den 34 Mitreisenden sind nicht nur Menschen aus dem Paritätischen in Bayern: Auch Mitglieder anderer Verbände, unabhängige Fachleute und Menschen aus Politik und Verwaltung auf Bundesebene sind dabei.[17] Alexander Eberth leitet die Reise. Er wird bald Vorsitzender des Paritätischen in Bayern werden.

Eine neue Vielfalt

Die Aufnahme und Unterstützung der Aids-Hilfen ist ein erster Schritt: Sie sind eng mit der Schwulenbewegung verbunden. Die hat so einen Fuß in die Tür des Paritätischen in Bayern bekommen. Trotzdem: Organisationen, die sich ausschließlich an homosexuelle Menschen richten, gibt es im Verband nicht. Das ändert sich 1994. Es ist ein besonderes Jahr: Der Paragraf, der homosexuelle Kontakte zwischen Männern unter Strafe gestellt hat, wird endgültig gestrichen.[18]

Durch die Selbsthilfebewegung hat sich im Paritätischen in Bayern viel verändert. Es herrscht eine neue Vielfalt. Die Aufnahmekriterien sind offener geworden. 1994 wird der Verein Lesbentelefon Mitglied im Paritätischen in Bayern.[19] Er bietet Beratung für lesbische Frauen an. Es ist die erste explizit nicht-heterosexuelle Mitgliedsorganisation des Verbands. Auch der Verein VIVA Transsexuellen Selbsthilfe München und das Schwule Kommunikations- und Kulturzentrum München (Sub) treten jetzt dem Verband bei.[20]




Im Jahr 2001 entsteht, unter anderem mit Unterstützung der Schauspielerin Ulrike Folkerts, der Kinospot „Coming Out“, mit dem für die Angebote der LeTRa Lesbenberatung des Münchner Vereins Lesbentelefon geworben wird.


In der bayerischen Schwulenbewegung wird bald darüber diskutiert, ob Schwule und Lesben nicht öfter zusammenarbeiten sollten.[21] Ab den 2000er Jahren weiten immer mehr Mitgliedsorganisationen des Paritätischen in Bayern ihre Angebote aus: Sie richten sich an alle Menschen, die nicht in heteronormative Denkmuster passen. Die Unterstützung von LGBTIQ*-Personen zeigt sich schließlich darin, dass das Referat Frauen/Geschlechterpolitik um das Arbeitsfeld LGBTIQ erweitert wird und so Sichtbarkeit und Vertretung der Mitgliedsorganisationen auf Landesebene erhöht. Aber auch auf regionaler Ebene werden die Mitgliedsorganisationen durch Fachberatung unterstützt.

Quellen und Literatur

Quellen:

  • Anlauf, Thomas: 30 Jahre Aids-Hilfe. Raus aus dem Virusstüberl, in: Süddeutsche Zeitung, 30.1.2014, in: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/30-jahre-aids-hilfe-raus-aus-dem-virusstueberl-1.1875290 (aufgerufen: 30.4.2024).
  • Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Niederschrift über die Vorstandssitzung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes am Freitag, dem 16. Februar 1973.
  • Bayerisches Hauptstaatsarchiv, MArb 4176, Akten des Bayerischen Ministeriums für Arbeit und Sozialordnung betreffend der Förderung einer Studienreise des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes unter Teilnahme von Mitgliedern des Staatsministeriums nach New York und San Francisco zur psychosozialen Betreuung von Aidskranken bzw. HIV-Infizierten sowie zur Aidspräventionsarbeit, 1988-1989.
  • BB: Der gemeinsame Kampf gegen AIDS. Nur das „wie“ trennt die Geister, in: parität aktuell (1987) Nr. 2, o. S.
  • Becker, Jan Marco: Spätere Vorbehalte nicht ausgeschlossen. Zusammenarbeit von Schwulen und Lesben, in: Nürnberger Schwulenpost (1998) Heft 9, S. 10.
  • lka: 30 Jahre Münchner Aids-Hilfe, in: Abendzeitung München, 23.1.2014, in: https://www.abendzeitung-muenchen.de/muenchen/30-jahre-muenchner-aids-hilfe-art-223762 (aufgerufen: 30.4.2024).
  • Mikuschka, Gabriele: AIDS. Konsequenzen für soziale Arbeit – Die Zeituhr läuft, in: parität aktuell (1987) Nr. 2, o. S.
  • O. A.: Aids. „Eine Epidemie, die erst beginnt“, in: Der Spiegel (1983) Heft 23, in: https://www.spiegel.de/politik/aids-eine-epidemie-die-erst-beginnt-a-6d358399-0002-0001-0000-000014021779 (aufgerufen: 30.4.2024). O. A.: Aids. „Eine Epidemie, die erst beginnt“.
  • O. A.: Das Stichwort. AIDS-Initiativen, in: parität aktuell (1987) Nr. 2, o. S.
  • PARITÄTISCHER Wohlfahrtsverband, Landesverband Bayern e.V.: 60 Jahre PARITÄTISCHER in Bayern, München 2008.

Literatur:

  • Gammerl, Benno: Eine Regenbogengeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2010) Heft 15/16, S. 7-13.
  • Netzer, Antonia: „Ich will mich nicht freiwillig in eine Randgruppe begeben“. Lesbischer Selbsthass im Spiegel der Zeit, in: l’Amour laLove, Patsy (Hg.): Selbsthass & Emanzipation. Das Andere in der heterosexuellen Normalität, Berlin 2016, S. 151-164.

Einzelnachweise

  1. Gammerl, Benno: Eine Regenbogengeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2010) Heft 15/16, S. 8
  2. Vgl. Gammerl: Eine Regenbogengeschichte, S. 9.
  3. Vgl. Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Niederschrift über die Vorstandssitzung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes am Freitag, dem 16. Februar 1973, S. 6.
  4. Vgl. Netzer, Antonia: „Ich will mich nicht freiwillig in eine Randgruppe begeben“. Lesbischer Selbsthass im Spiegel der Zeit, in: l’Amour laLove, Patsy (Hg.): Selbsthass & Emanzipation. Das Andere in der heterosexuellen Normalität, Berlin 2016, S. 158-162.
  5. Vgl. Anlauf, Thomas: 30 Jahre Aids-Hilfe. Raus aus dem Virusstüberl, in: Süddeutsche Zeitung, 30.1.2014, in: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/30-jahre-aids-hilfe-raus-aus-dem-virusstueberl-1.1875290 (aufgerufen: 30.4.2024).
  6. Vgl. ebd.
  7. O. A.: Aids. „Eine Epidemie, die erst beginnt“, in: Der Spiegel (1983) Heft 23, in: https://www.spiegel.de/politik/aids-eine-epidemie-die-erst-beginnt-a-6d358399-0002-0001-0000-000014021779 (aufgerufen: 30.4.2024).
  8. Ebd.
  9. Anlauf: 30 Jahre Aids-Hilfe.
  10. lka: 30 Jahre Münchner Aids-Hilfe, in: Abendzeitung München, 23.1.2014, in: https://www.abendzeitung-muenchen.de/muenchen/30-jahre-muenchner-aids-hilfe-art-223762 (aufgerufen: 30.4.2024).
  11. Vgl. PARITÄTISCHER Wohlfahrtsverband, Landesverband Bayern e.V.: 60 Jahre PARITÄTISCHER in Bayern, München 2008, S. 45.
  12. Vgl. 60 Jahre PARITÄTISCHER in Bayern, S. 45
  13. Vgl. O. A.: Das Stichwort. AIDS-Initiativen, in: parität aktuell (1987) Nr. 2, o. S.
  14. Vgl. BB: Der gemeinsame Kampf gegen AIDS. Nur das „wie“ trennt die Geister, in: parität aktuell (1987) Nr. 2, o. S.
  15. Mikuschka, Gabriele: AIDS. Konsequenzen für soziale Arbeit – Die Zeituhr läuft, in: parität aktuell (1987) Nr. 2, o. S.
  16. BayHSTA, MArb 4176, Schreiben von Bernhard Uffrecht an das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, 8.9.1988.
  17. Vgl. BayHSTA, MArb 4176, Teilnehmerliste, in: Schreiben von A. Fackelmann an E. Riedl, 21.12.1988.
  18. Vgl. Gammerl: Eine Regenbogengeschichte, S. 9.
  19. Vgl. 60 Jahre PARITÄTISCHER in Bayern, S. 48
  20. Vgl. ebd.
  21. Becker, Jan Marco: Spätere Vorbehalte nicht ausgeschlossen. Zusammenarbeit von Schwulen und Lesben, in: Nürnberger Schwulenpost (1998) Heft 9, S. 10.

Debug data: