Ein besonderes Nachwuchsprogramm: Das Freiwillige Soziale Jahr im Paritätischen in Bayern

Aus Geschichts-Wiki

Schon in den 1920er Jahren hat der Paritätische in Bayern um Freiwillige für die Mithilfe in der Sozialen Arbeit geworben. Mitte der 1960er Jahre kommt etwas Neues auf: Das Freiwillige Soziale Jahr soll junge Menschen für Soziale Arbeit begeistern. Das leitet eine neue Ära des freiwilligen Engagements im Paritätischen in Bayern ein.

Eine neue Idee entsteht

Auch der Paritätische in Bayern wird bald vor allem mit jungen Frauen für das FSJ werben, wie hier, 1978, in der bundesweiten Verbandszeitung parität aktuell des Paritätischen Gesamtverbands.

In den 1950er Jahren entsteht eine neue Idee, um junge Freiwillige für die Soziale Arbeit zu gewinnen. Sie stammt von Hermann Dietzfelbinger, dem Leiter einer evangelischen Einrichtung in Neuendettelsau in Mittelfranken. Seine Idee: Junge Menschen könnten doch nach ihrem Schulabschluss ein Jahr in der Pflege arbeiten. In der ganzen Bundesrepublik fehlt Personal in den Pflegeeinrichtungen. Hermann Dietzfelbinger glaubt, so könnte man das Problem lösen.[1]

Für junge Männer wird gerade der Wehrdienst wieder eingeführt. Deshalb ermutigt Hermann Dietzfelbinger vor allem Frauen, sich ein Jahr lang in den „Dienst am Nächsten“ zu stellen.[2] Er betont, dass junge Frauen beim Freiwilligendienst neben der Pflege auch Hauswirtschaft, Kochen und Nähen lernen würden.[3] Das kommt bei vielen bürgerlichen Eltern gut an. Sie schicken ihre Töchter zum Freiwilligendienst, um sie auf ein Leben als Ehe- und Hausfrau vorzubereiten.[4]

Mehrwert für beide Seiten

Die Idee breitet sich aus. In den 1960er Jahren beginnen auch nicht-kirchliche Träger damit, einjährige Freiwilligendienste zu organisieren. Dazu gehört auch der Paritätische in Bayern. Dabei steht nicht der „Dienst am Nächsten“ im Vordergrund, sondern Bildung: Junge Menschen sollen merken, dass soziale Berufe sinnvoll sind und Spaß machen. Sie sollen Verantwortung übernehmen und selbstständiger werden.[5]

1964 verabschiedet der Bundestag das „Gesetz zur Förderung des Freiwilligen Sozialen Jahres“ (FSJ). Jetzt ist das Konzept gesetzlich festgeschrieben. Das verbessert die finanzielle Lage der Teilnehmenden, zum Beispiel weil jetzt das Kindergeld während eines FSJ weitergezahlt wird.[6] Mit dem Gesetz kommen außerdem klare Rahmenbedingungen: Die Teilnehmenden sollen zwischen 17 und 27 Jahre alt sein. Sie bekommen ein Taschengeld, Unterkunft und Verpflegung. Ein Großteil der Kosten wird von den Einrichtungen getragen, in denen die Freiwilligen tätig sind. Aber: Das ist teuer. Die Zahl der Einsatzstellen ist darum begrenzt.[7] Im Paritätischen in Bayern startet das Freiwillige Soziale Jahr 1964 mit 11 Teilnehmenden.[8]

Das FSJ steht Männern und Frauen offen. Doch für junge Männer ist es nach der Einführung von Wehr- und Zivildienst schwer, zwischen Schule und Berufsleben noch ein weiteres Jahr einzuschieben.[9] Darum machen weiterhin vor allem Frauen ein FSJ. Als sich im Lauf der 1960er Jahre das Frauenbild in der Gesellschaft verändert, wird der Freiwilligendienst für Frauen auch als Türöffner in die Berufswelt gesehen.[10] Viele FSJ-Teilnehmerinnen sind Berufstätige, die mit ihrer bisherigen Arbeitsstelle unzufrieden sind. Die jungen Frauen wurden zum Beispiel von ihren Eltern in einen Beruf gedrängt, der ihnen gar nicht zusagt. Das FSJ hilft ihnen, eigene Erfahrungen zu machen und sich neu zu orientieren. Andere sind Schulabgängerinnen, die berufliche Orientierung suchen oder Frauen, die im Rahmen ihrer Ausbildung ein Praktikum im sozialen Bereich absolvieren müssen.[11] Dass vor allem Frauen im sozialen Bereich arbeiten, hat eine lange Tradition, mit der der Paritätische in Bayern eng verbunden ist.


Erfahrungsberichte von ehemaligen Teilnehmenden funktionieren besonders gut als Werbung für das FSJ. Das weiß auch der Paritätische in Bayern und veröffentlicht deshalb unter anderem diesen Flyer, auf dem eine Teilnehmerin von ihrem Freiwilligen Sozialen Jahr schwärmt.

Das FSJ im Paritätischen in Bayern

Der Paritätische in Bayern ist der erste Landesverband des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands, der ein FSJ anbietet.[12] Das liegt auch am neuen Geschäftsführer des Paritätischen in Bayern, Bernhard Uffrecht. Ihm ist es besonders wichtig, junge Menschen für soziale Berufe zu begeistern. Deswegen liegt ihm die Idee des Freiwilligen Sozialen Jahres am Herzen.[13] Nachdem das FSJ im Paritätischen in Bayern erfolgreich gestartet ist, wird Bernhard Uffrecht sich zusätzlich auf den Aufbau von Nachbarschaftshilfen konzentrieren. Er will auch Erwachsene für freiwillige Soziale Arbeit und gegenseitige Hilfe begeistern. Es ist eine Zeit, in der sich der Paritätische in Bayern neu orientiert: Die Menschen sollen nicht mehr nur Geld spenden, sondern im Rahmen ihrer Möglichkeiten selbst aktiv werden und das Leben in Bayern sozialer gestalten.

Die Freiwilligen werden vor allem in Krankenhäusern und Kindertagesstätten eingesetzt.[14] Während ihres freiwilligen Jahres wohnen sie direkt in oder bei ihren Einsatzstellen. Die sind zwischen Oberbayern und dem Bodensee verteilt. Besonders viele paritätische FSJ-Einsatzstellen gibt es in München.[15]

Aber: Es gibt auch Kritik am FSJ. Es sei nur ein Mittel, um „billige und angepasste Arbeitskräfte“ zu gewinnen, heißt es.[16] Viele Trägerorganisationen beginnen deswegen damit, Seminarprogramme anzubieten.[17] Auch beim Paritätischen in Bayern gehört ein Bildungsprogramm zum FSJ. Die Teilnehmenden können sich mit Themen wie Musiktherapie oder Erlebnispädagogik beschäftigen und weiterbilden.[18] Ein besonderes Highlight bei einem FSJ im Paritätischen in Bayern sind die Berlin-Fahrten. Dabei werden soziale Einrichtungen in West- und Ostberlin besucht. Viele Teilnehmende sind davon beeindruckt, die innerdeutsche Grenze einmal hautnah zu erleben. „Die Fahrt dauerte zehn Stunden mit zwei aufregenden Unterbrechungen an den Grenzübergängen“, berichtet die Teilnehmerin Irene 1971. „Es ist schwer zu begreifen, dass solche Kontrollen notwendig sind, wenn man als Deutscher durch Deutschland fahren will“, findet sie.[19] Neben dem Einblick in die DDR lernen die FSJ-Teilnehmenden in Westberlin neuartige Einrichtungen kennen, zum Beispiel Frauenhäuser.[20] Die nehmen bald im Paritätischen in Bayern eine besondere Stellung ein.


Um nach Berlin zu kommen, verbringen die FSJ-Teilnehmenden des Paritätischen in Bayern viele Stunden im Reisebus. Auch bei diesen Fahrten sind vor allem junge Frauen an Bord. Die Fahrten sind beliebt und werden vielen Beteiligten lange als besonderes Erlebnis in Erinnerung bleiben.

Ein Schritt in Richtung mehr Engagement

Die Teilnehmendenzahlen steigen immer weiter an.[21] Das hängt auch damit zusammen, dass Politiker*innen versuchen, das FSJ als Alternative zur Arbeitslosigkeit zu verkaufen. Es gibt nämlich zu wenig Ausbildungsplätze für junge Menschen.[22] In den Medien gibt es immer wieder Kritik am FSJ. Zeitungen berichten von langen Arbeitszeiten, wenig Freizeit und der geringen Bezahlung, die sich seit den 1960er Jahren kaum verändert hat. In diesem Zusammenhang prangern sie auch soziale Ungerechtigkeit an, denn: Nur Kinder mit wohlhabenden Eltern können sich ein FSJ leisten.[23] Die Kehrseite der Medaille: Gerade weil sich viele Abiturient*innen für ein Freiwilliges Soziales Jahr entscheiden, wird es schließlich zum Prestigeobjekt im Lebenslauf.[24] 25 Jahre nach Beginn des Programms haben schon 4.600 junge Menschen ein FSJ im Paritätischen in Bayern absolviert. Pro Jahr vergibt der Verband Ende der 1980er Jahre über 200 Einsatzstellen.[25]


In der Zeitung parität aktuell berichtet der Paritätische in Bayern immer wieder von seinen FSJ-Aktivitäten und lässt junge Teilnehmende selbst zu Wort kommen, wie hier 1991.


In den 1990er Jahren ist die Imagekrise endgültig überwunden. Das FSJ ist als „Orientierungs- und Bildungsjahr“ bekannt und beliebt.[26] Das Ansehen sozialer Berufe hat sich in Deutschland schrittweise verbessert.[27] Auch auf freiwilliges Engagement wird jetzt anders geblickt.

Quellen und Literatur

Quellen:

  • Enßlin, Gudrun: Für alle ein wertvolles Jahr. Freiwilliges Soziales Jahr wird 25 Jahre alt, in: parität aktuell (1989) Nr. 3, o. S. [Anmerkung der Redaktion: Bei der Autorin handelt es sich nicht um die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin.]
  • O. A.: Das freiwillige soziale Jahr – zur Entwicklung seit 1964, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1968) Heft 4, S. 43 f.
  • O. A.: Besuch des FSJ München, in: parität aktuell (1969) Nr. 1, o. S.
  • O. A.: Das freiwillige soziale Jahr auch in Berlin, in: parität aktuell (1970) Nr. 2, o. S.
  • O. A.: Das FREIWILLIGE SOZIALE JAHR im DPWV. Jahresbericht 1971, in: DPWV-Nachrichten (1972) Heft 9 126-128.
  • O. A.: 54 Mädchen gingen auf Berlin-Fahrt, in: parität aktuell (1971) Nr. 1, o. S.
  • O. A.: Sozialer Beruf auf Probe. Freiwilliges Soziales Jahr, in: parität aktuell (1989), Nr. 2, o. S.
  • O. A.: Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) – unverzichtbare Helfer, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1994) Heft 12, S. 141 f.
  • Zeitzeugengespräch mit Klaus Cardocus am 26.01.2024.

Literatur:

  • dbs: „Die Erfahrung, gebraucht zu werden“, in: DER PARITÄTISCHE (2014) Heft 5, S. 6.
  • Diehl, Andrea: Untersuchung zum Freiwilligen Sozialen Jahr, Stuttgart 1998.
  • Krüger, Christine G.: Dienstethos, Abenteuerlust, Bürgerpflicht. Jugendfreiwilligendienste in Deutschland und Großbritannien im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016.
  • Napieralla, Kristin: 50 Jahre Freiwilliges Soziales Jahr im Paritätischen. Junge Menschen profitieren vom Engagement für andere, in: DER PARITÄTISCHE (2014) Heft 5, S. 4-5.

Einzelnachweise

  1. Vgl. Diehl, Andrea: Untersuchung zum Freiwilligen Sozialen Jahr, Stuttgart 1998, S. 35.
  2. Krüger, Christine G.: Dienstethos, Abenteuerlust, Bürgerpflicht. Jugendfreiwilligendienste in Deutschland und Großbritannien im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016, S. 131.
  3. Vgl. Krüger: Dienstethos, S. 140.
  4. Vgl. Krüger: Dienstethos, S. 143.
  5. Vgl. Diehl: Untersuchung, S. 35; Krüger: Dienstethos, S. 152.
  6. Vgl. Diehl: Untersuchung, S. 36.
  7. Vgl. O. A.: Das freiwillige soziale Jahr – zur Entwicklung seit 1964, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1968) Heft 4, S. 43f.
  8. Vgl. Napieralla, Kristin: 50 Jahre Freiwilliges Soziales Jahr im Paritätischen. Junge Menschen profitieren vom Engagement für andere, in: DER PARITÄTISCHE (2014) Heft 5, S. 4.
  9. Vgl. O. A.: Das FREIWILLIGE SOZIALE JAHR im DPWV. Jahresbericht 1971, in: DPWV-Nachrichten (1972) Heft 9 126-128.
  10. Vgl. Krüger: Dienstethos, S. 162.
  11. Vgl. O. A.: Das freiwillige soziale Jahr – zur Entwicklung seit 1964, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1968) Heft 4, S. 43f.
  12. Vgl. O. A.: Das freiwillige soziale Jahr auch in Berlin, in: parität aktuell (1970) Nr. 2, o. S.
  13. Vgl. Zeitzeugengespräch mit Klaus Cardocus am 26.01.2024.
  14. Vgl. O. A.: Das FREIWILLIGE SOZIALE JAHR im DPWV. Jahresbericht 1971, in: DPWV-Nachrichten (1972) Heft 9 126-128.
  15. Vgl. ebd.
  16. Krüger: Dienstethos, S. 266.
  17. Krüger: Dienstethos, S. 276.
  18. O. A.: Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) – unverzichtbare Helfer, in: Bayerischer Wohlfahrtsdienst (1994) Heft 12, S. 141 f.
  19. Zitiert nach: O. A.: 54 Mädchen gingen auf Berlin-Fahrt, in: parität aktuell (1971) Nr. 1, o. S.
  20. Vgl. O. A.: Besuch des FSJ München, in: parität aktuell (1969) Nr. 1, o. S. sowie Zeitzeugengespräch mit Klaus Cardocus am 26.01.2024.
  21. Vgl. O. A.: Sozialer Beruf auf Probe. Freiwilliges Soziales Jahr, in: parität aktuell (1989), Nr. 2, o. S.
  22. Vgl. Krüger: Dienstethos, S. 305.
  23. Vgl. Krüger: Dienstethos, S. 314.
  24. Vgl. ebd.
  25. Enßlin, Gudrun: Für alle ein wertvolles Jahr. Freiwilliges Soziales Jahr wird 25 Jahre alt, in: parität aktuell (1989) Nr. 3, o. S. [Anmerkung der Redaktion: Bei der Autorin handelt es sich nicht um die RAF-Terroristin Gudrun Ensslin.]
  26. Vgl. dbs: „Die Erfahrung, gebraucht zu werden“, in: DER PARITÄTISCHE (2014) Heft 5, S. 6.
  27. Vgl. Krüger: Dienstethos, S. 314.

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