Der „Mittelpunkt der paritätischen Wohlfahrtspflege in München und in Bayern“: Luise Kiesselbach
Luise Kiesselbach findet nach mehreren persönlichen Schicksalsschlägen zur bürgerlichen Frauenbewegung und wird eine ihrer bedeutendsten Protagonistinnen in Bayern. Geschickt nutzt sie ihr stetig wachsendes Netzwerk, um soziale Belange zu fördern, und gründet so unter anderem den Paritätischen in Bayern mit.
Für die Familie verantwortlich
Luise Becker, geboren am 28. Dezember 1863 in Hanau, muss früh lernen, mit Schicksalsschlägen umzugehen.[1] Als sie zwölf Jahre alt ist, erkrankt ihre Mutter. Ihre Kindheit ist somit schlagartig vorbei: Luise Becker muss den Haushalt für die zehnköpfige Lehrerfamilie übernehmen. Mit 15 Jahren verlässt sie die Schule und pflegt ihre Mutter bis zu deren Tod.[2]
1883 heiratet die inzwischen Zwanzigjährige den Ohrenarzt Wilhelm Kiesselbach. Die beiden leben im Umfeld der Universität Erlangen, an der Wilhelm Kiesselbach lehrt. Als er 1901 unerwartet stirbt, bricht für Luise Kiesselbach erneut eine Welt zusammen. Sie ist 38 Jahre alt, ihre zwei Kinder sind fast erwachsen. Die junge Witwe muss einen neuen Lebensinhalt finden. Das wird Jahre dauern.[3]
Von Erlangen nach München
Während einer Reise nach Rom fasst Luise Kiesselbach neuen Mut. Zurück in Erlangen schließt sie sich der bürgerlichen Frauenbewegung an, die für Bildung und Mitbestimmung kämpft.[4] Die Frauenbewegung versteht das Soziale als Arbeitsfeld, für das Frauen besonders geeignet sind.[5] Das will Luise Kiesselbach unterstützen. Ihr Fokus wird „das Sichtbarmachen der Frauenhilfe in der Öffentlichkeit“.[6] So sollen mehr Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten für Frauen entstehen.
Mit Luise Kiesselbachs Hilfe werden in Erlangen ein Mädchenhort und ein Kindergarten eröffnet. Sie organisiert Vorträge und darf als eine der ersten Frauen in Bayern als Armenpflegerin arbeiten. Ika Freudenberg, die Gründerin des Vereins für Fraueninteressen in München, ist von alldem begeistert. Sie sieht in Luise Kiesselbach eine würdige Nachfolgerin. Deshalb kommt Luise Kiesselbach 1912 nach München und wird Vorsitzende des Vereins. Ein Jahr später übernimmt sie auch den Vorsitz des Hauptverbandes Bayerischer Frauenvereine.[7] Sie hat endgültig ein neues Wirkungsfeld gefunden.
Frauenrechtlerin, Wohlfahrtspflegerin, Politikerin
Luise Kiesselbach ist für die Gründung vieler Organisationen verantwortlich, darunter der Stadtbund Münchner Frauenvereine und die Berufsorganisation der Hausfrauen.[8] Während des Ersten Weltkriegs leitet sie den Wohlfahrtsausschuss des Bezirks Schwabing-West, der sich so zum „Vorzeigebezirk der Münchner Kriegsfürsorge“ entwickelt.[9] 1919 zieht sie für die Deutsche Demokratische Partei in den Münchner Stadtrat ein.[10] Sie setzt alles daran, soziale Initiativen zu vernetzen und ihnen Zugang zu Fördermitteln zu verschaffen. Zu diesem Zweck ruft sie 1924 den Paritätischen in Bayern ins Leben und wird seine erste Vorsitzende.
Neben ihren zahlreichen Ämtern verliert Luise Kiesselbach den einzelnen Menschen nicht aus den Augen. In Briefen und persönlichen Gesprächen bitten sie viele direkt um Hilfe. Luise Kiesselbach hört zu und sucht nach Lösungen. Ihr Motto: „Wenn Sie für den anderen nur ein paar Minuten Zeit haben, diese paar Minuten müssen Sie ganz für ihn da sein“.[11]
Luise Kiesselbach ist an so vielen Projekten und Organisationen beteiligt, dass es kaum möglich ist, sie lückenlos aufzuzählen. In ihren letzten Lebensjahren widmet sie sich der Altenpflege, die sie zum Kernthema des Paritätischen in Bayern macht. Ihr unerwarteter Tod am 27. Januar 1929 ist für viele ein Schock. Eine Wegbegleiterin bezeichnet Luise Kiesselbach rückblickend als „Mittelpunkt der paritätischen Wohlfahrtspflege in München und in Bayern“.[12] Ihre Arbeit wirkt nach, nicht zuletzt in Form des Paritätischen in Bayern.
Quellen und Literatur
Quellen:
- Bäumer, Gertrud: Gestalt und Wandel. Frauenbildnisse, Berlin 1939.
- Rickmers, Florentine: Gedächtnisrede für Frau Stadtrat Luise Kiesselbach. Gehalten anläßlich der Gedächtnisfeier am 17. Februar 1929 im alten Rathaussaal zu München von Frau Regierungsrat Dr. F. Rickmers, in: Nachrichtenblatt des Fünften Wohlfahrtsverbandes (1929) Heft 2, S. 10.
Literatur:
- Berger, Manfred: Kisselbach [sic], Luise, in: Maier, Hugo (Hg.): Who is who der Sozialen Arbeit, Freiburg im Breisgau 1998, S. 300.
- Herwig-Lempp, Johannes: Luise Kiesselbach (1863-1929). Eine der ersten Frauen in der bayerischen Armenpflege: Sozialarbeiterin, Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, in: soziales_kapital (2009) Nr. 4, o. S.
- Rudloff, Wilfried: Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910-1933, Bd. 1, Göttingen 1998.
- Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 bis 1929, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1988.
Einzelnachweise
- ↑ Vgl. Berger, Manfred: Kisselbach [sic], Luise, in: Maier, Hugo (Hg.): Who is who der Sozialen Arbeit, Freiburg im Breisgau 1998, S. 300.
- ↑ Vgl. Bäumer, Gertrud: Gestalt und Wandel. Frauenbildnisse, Berlin 1939, S. 709.
- ↑ Vgl. Rickmers, Florentine: Gedächtnisrede für Frau Stadtrat Luise Kiesselbach. Gehalten anläßlich der Gedächtnisfeier am 17. Februar 1929 im alten Rathaussaal zu München von Frau Regierungsrat Dr. F. Rickmers, in: Nachrichtenblatt des Fünften Wohlfahrtsverbandes (1929) Heft 2, S. 10.
- ↑ Vgl. ebd.
- ↑ Vgl. Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 bis 1929, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1988, S. 42 f.
- ↑ Rickmers: Gedächtnisrede, S. 10.
- ↑ Vgl. Rickmers: Gedächtnisrede, S. 11.
- ↑ Vgl. ebd.
- ↑ Rudloff, Wilfried: Die Wohlfahrtsstadt. Kommunale Ernährungs-, Fürsorge und Wohnungspolitik am Beispiel Münchens 1910-1933, Bd. 1, Göttingen 1998, S. 277.
- ↑ Vgl. Rudloff: Die Wohlfahrtsstadt, Bd. 2, S. 750.
- ↑ Zitiert nach: Herwig-Lempp, Johannes: Luise Kiesselbach (1863-1929). Eine der ersten Frauen in der bayerischen Armenpflege: Sozialarbeiterin, Frauenrechtlerin und Sozialpolitikerin, in: soziales_kapital (2009) Nr. 4, S. 6.
- ↑ Bäumer: Gestalt und Wandel, S. 712.
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