Aufbau Ost: Der Paritätische in Sachsen entsteht – mit Unterstützung aus Bayern
Als sich das Ende der DDR nähert, gibt es in Ostdeutschland viele Menschen, die spannende Ideen haben und etwas Neues aufbauen möchten. Der Paritätische in Bayern unterstützt sie mit Wissen und Erfahrung aus der Bundesrepublik. Er hilft so im Großen wie im Kleinen, den Paritätischen in Sachsen auf den Weg zu bringen.
Der Mauerfall
Am 9. November 1989 fällt die Berliner Mauer. Fast dreißig Jahre lang hat sie die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik voneinander getrennt – nicht nur in Berlin.
Der Paritätische Gesamtverband in Frankfurt am Main beobachtet die Situation und wartet ab. „Erstmal wollten wir überhaupt nichts machen“, wird sich Ulrich Schneider später erinnern. „Hauptgrund war, dass wir sagten, die Leute in der DDR müssen selber wissen, was sie wollen.“[1] Ulrich Schneider ist zu dieser Zeit sozialpolitischer Referent des Gesamtverbands. Er ahnt wahrscheinlich nicht, dass er bald sehr viel mit der DDR zu tun haben wird. Der Paritätische Gesamtverband möchte die Menschen dort nicht bevormunden. Es herrscht die Meinung: Man sollte nichts überstürzen. Nicht alle glauben an eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten. „Alles wurde gedacht, einfach weil man sagte, so eine Hoppla-Hop-Vereinigung kann eigentlich nicht sonderlich gut gehen und wird den Menschen auch nicht gerecht.“[2]
Hilferufe aus dem Osten
Einige große Mitgliedsorganisationen des Paritätischen Gesamtverbands haben schon länger Kontakte in die DDR. Zum Beispiel für Menschen mit Behinderungen schicken westdeutsche Organisationen Hilfsmittel in die DDR. Die kann man dort nur sehr schwer bekommen. Durch diese Kontakte wird der Paritätische Gesamtverband bald zum Handeln gezwungen: Aus der DDR kommen jetzt immer mehr Hilfsanfragen. Manche Menschen fahren dazu einfach aus der DDR zu einem der westdeutschen Landesverbände. So wird klar: Es braucht Strukturen vor Ort, damit die Menschen in der DDR sich selbst helfen und etwas Neues aufbauen können – ganz in der Tradition des Paritätischen.[3]
Bald stellt die Bundesregierung Mittel für den Aufbau neuer Strukturen in der DDR bereit. Ulrich Schneider wird zum DDR-Beauftragten des Paritätischen Gesamtverbands. Er fährt zu den westdeutschen Landesverbänden, die direkt an die DDR grenzen. Dazu gehört der Paritätische in Bayern. Der bekommt jetzt die Aufgabe, beim Aufbau paritätischer Strukturen in Sachsen mitzuhelfen. Ulrich Schneider fährt gemeinsam mit dem Geschäftsführer des Paritätischen in Bayern, Dietmar Radtke, durch Sachsen, um sich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen. Es herrscht Aufbruchstimmung.[4]
Der Landesverband Sachsen wird gegründet
Ute Dörmer ist Mitte 20, als die Mauer fällt. Sie ist Erzieherin und Sportlehrerin in Sachsen. Jetzt träumt sie davon, Heimkindern ein besseres Leben zu ermöglichen, in kleinen Gruppen mit familiärer Atmosphäre. Ihr Arbeitsalltag sieht ganz anders aus: „16 Kinder in einer Gruppe, Erstklässler, lernbehindert – mit denen abends duschen zu gehen, da weißt du, was du gemacht hast.“[5] So soll es nicht weitergehen. Sie bekommt den Tipp, einen Verein zu gründen. Im Februar 1990 gründet sie bei Kaffee und Kuchen – sie feiert gerade ihren Geburtstag – die Bürgerhilfe Sachsen.[6]
Ute Dörmer erfährt bald: Ein Verein wie die Bürgerhilfe Sachsen muss sich einem der Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege anschließen, wenn er etwas erreichen will. Ihr wird der Paritätische empfohlen. Der entspricht genau ihren Vorstellungen: „Wir gelernten DDR-Kinder, wir wollten keiner Partei angehören und wir wollten auch keiner Konfession nachgehen, sondern wir wollten, wie es in unserer Satzung stand, nach dem freiheitlichen Menschenbild arbeiten“.[7] Das Timing ist perfekt: Am 11. Juli 1990 findet in Dresden in einem Club der Volkssolidarität die Gründungsversammlung des Paritätischen in Sachsen statt.[8] Die Volkssolidarität ist ursprünglich im Oktober 1945 als Volkssolidarität gegen Wintersnot in Dresden gegründet worden.[9] Sie war jahrzehntelang eine wichtige Massenorganisation in der DDR, die vor allem Hilfe für Senior*innen geleistet hat. Der Fall der Berliner Mauer und seine Folgen haben die Organisation auf den Kopf gestellt: Bisher war die Volkssolidarität eng an das staatliche Gesundheits- und Sozialwesen der DDR gebunden gewesen. Ihre Mitarbeitenden haben deshalb kaum Erfahrung mit Aushandlungsverfahren, Konkurrenz und organisatorischem Management. Nach einigen Monaten voller Unsicherheit und interner Diskussionen hat die Volkssolidarität Kontakt zum Paritätischen aufgenommen. Ihm möchte sie sich jetzt als Mitgliedsorganisation anschließen, um weiterhin soziale Arbeit für die Menschen in Ostdeutschland leisten zu können.[10]
Ute Dörmer geht zur Gründungsversammlung des Paritätischen in Sachsen – und wird kurzerhand zur ersten Vorsitzenden des neuen Landesverbands gewählt. Denn: Sie ist jung, hat keine Kinder und schon ein bisschen Erfahrung mit Vereinen.[11] Ihre Stellvertreterin wird Barbara Friedemann von der Volkssolidarität.[12] Zur Unterstützung wird Ute Dörmer ein Mann aus Bayern an die Seite gestellt: Johannes Leonhard. Der kommt ursprünglich aus Berlin. Seit knapp zwanzig Jahren ist er beim Paritätischen in Bayern.[13] Der hat ihn zu seinem DDR-Beauftragten ernannt. Johannes Leonhard hat beim Paritätischen in Bayern zum Beispiel das Rechnungswesen geleitet.[14] Jetzt wird er Geschäftsführer des Paritätischen in Sachsen. „Diese Kooperation stellte sich als großes Glück heraus, weil diese ganzen infrastrukturellen Geschichten – Wie beantragt man Fördergelder? Wie rechnet man die ab? Wo kommen die her? Wie vereinbart man mit der Landesregierung, dass die Spitzenverbände Fördergelder kriegen? – das brachte Johannes Leonhard natürlich alles mit“, wird Ute Dörmer später sagen. „Dadurch haben wir als Landesverband ein stückweit schneller in die bundesdeutsche Struktur gefunden.“[15] Das ist wichtig: Seit dem 3. Oktober 1990 gibt es die DDR nicht mehr. Sachsen gehört jetzt zur Bundesrepublik.
Austausch auch im Kleinen
Auf verschiedenen Ebenen gibt es jetzt Austausch zwischen Bayern und Sachsen, der darauf abzielt, dass die ehemaligen DDR-Bürger*innen die Verwaltungsstrukturen der Bundesrepublik verstehen und nutzen lernen. Ideen für spannende und wichtige soziale Projekte gibt es in Sachsen genug.
Klaus Cardocus leitet die Personalverwaltung des Paritätischen in Bayern. Teil seiner Arbeit ist es, Mitgliedsorganisationen in Personalfragen zu beraten. Er wird darum gebeten, seine Beratung auch einmal in Dresden anzubieten. Also fährt er hin.[16] Früher war Klaus Cardocus öfter für den Paritätischen in Bayern in der DDR: Als Begleiter auf den Berlin-Fahrten des Freiwilligen Sozialen Jahres.
Andrea Müller-Stoy ist Referentin für Frauen und Familie im Paritätischen in Bayern. Auch sie fährt nach Ostdeutschland, zu einem Vernetzungstreffen für Frauenprojekte. Die Frauenbewegung in der DDR konnte lange keine eigenen Organisationen gründen. Das war politisch nicht gewollt. Die Frauen mussten vorsichtig sein. Das ist jetzt anders.[17] „Diese Stimmung, die Atmosphäre, alles in Grau... aber die Frauen waren voller Hoffnung und Elan,“ wird sich Andrea Müller-Stoy später erinnern.[18] Sie gibt ihr Wissen und ihre Erfahrung an die Kolleginnen weiter. Das hilft, vor allem beim Aufbau von Frauenhäusern in der ehemaligen DDR.[19]
Die Hilfe wird gegenseitig
Der Aufbau des Paritätischen in Sachsen geht gut voran. So gut sogar, dass der Paritätische in Bayern davon finanziell profitieren kann: Johannes Leonhard baut in Geretsried eine Zivildienstschule auf. Das klappt nur, weil der Paritätische in Sachsen als Gesellschafter Geld dazugibt. Der Paritätische in Bayern kämpft gerade mit einer finanziellen Krise. Die Zivildienstschule ist deshalb auf das Geld aus Sachsen angewiesen. Johannes Leonhard ist jetzt beides: Geschäftsführer der Zivildienstschule in Bayern und Geschäftsführer des Paritätischen in Sachsen.[20] In Sachsen laufen seine Projekte bald aus dem Ruder. Er investiert viel Geld des Landesverbands in Einrichtungen, ohne sich vorher mit dem Vorstand abzusprechen. 1994 nehmen die Konflikte Überhand. Der Paritätische in Sachsen bekommt einen neuen Geschäftsführer.[21] Der Verband hat mittlerweile über 300 Mitgliedsorganisationen.[22] Er konzentriert sich jetzt darauf, seine neuen Strukturen noch besser an Sachsen anzupassen. Für die Starthilfe aus Bayern wird Ute Dörmer, die bald Ute Seifert heißt, noch lange dankbar sein.[23]
Quellen und Literatur
Quellen:
- Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Einladung zur Gründung des Paritätischen in Sachsen durch Johannes Leonhard, 27.6.1990.
- Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Statistische Übersichten zu Mitgliedsorganisationen im Paritätischen 1981-2001.
- Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Ergebnisnotiz zur Gründung des Landesverbands Sachsen am 11.07.1990, 13.07.1990.
- Zeitzeugengespräch mit Klaus Cardocus am 26. Januar 2024.
- Zeitzeuginnengespräch mit Gabriele Krommer am 29. Januar 2024.
- Zeitzeuginnengespräch mit Andrea Müller-Stoy am 20. März 2024.
- Zeitzeugengespräch mit Ulrich Schneider am 9. Januar 2024.
- Zeitzeuginnengespräch mit Ute Seifert am 24. Mai 2024.
Literatur:
- Angerhausen, Susanne: Radikaler Organisationswandel. Wie die „Volkssolidarität“ die deutsche Vereinigung überlebte, Opladen 2003.
- Böick, Marcus/Lorke, Christoph: Zwischen Aufschwung und Anpassung. Eine kleine Geschichte des „Aufbau Ost“, Bonn 2022.
- Sänger, Eva: Frauenbewegung in der DDR. Gegenöffentlichkeiten und Unrechtserfahrungen informeller Frauengruppen in den 1980er Jahren, in: Hikel, Christine/Kramer, Nicole, Zellmer, Elisabeth (Hg.): Lieschen Müller wird politisch. Geschlecht, Staat und Partizipation im 20. Jahrhundert, München 2009, S. 127-137.
Einzelnachweise
- ↑ Zeitzeugengespräch mit Ulrich Schneider am 9. Januar 2024.
- ↑ Ebd.
- ↑ Ebd.
- ↑ Ebd.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Ute Seifert am 24. Mai 2024.
- ↑ Ebd.
- ↑ Ebd.
- ↑ Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Einladung zur Gründung des Paritätischen in Sachsen durch Johannes Leonhard, 27.6.1990.
- ↑ Vgl. Angerhausen, Susanne: Radikaler Organisationswandel. Wie die „Volkssolidarität“ die deutsche Vereinigung überlebte, Opladen 2003, S. 121-124.
- ↑ Vgl. Angerhausen: Organisationswandel, S. 136-150.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Ute Seifert am 24. Mai 2024.
- ↑ Vgl. Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Ergebnisnotiz zur Gründung des Landesverbands Sachsen am 11.07.1990, 13.07.1990.
- ↑ Zeitzeugengespräch mit Klaus Cardocus am 26. Januar 2024.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Gabriele Krommer am 29. Januar 2024.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Ute Seifert am 24. Mai 2024.
- ↑ Zeitzeugengespräch mit Klaus Cardocus am 26. Januar 2024.
- ↑ Vgl. Sänger, Eva: Frauenbewegung in der DDR. Gegenöffentlichkeiten und Unrechtserfahrungen informeller Frauengruppen in den 1980er Jahren, in: Hikel, Christine/Kramer, Nicole, Zellmer, Elisabeth (Hg.): Lieschen Müller wird politisch. Geschlecht, Staat und Partizipation im 20. Jahrhundert, München 2009, S. 127-137.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Andrea Müller-Stoy am 20. März 2024.
- ↑ Ebd.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Ute Seifert am 24. Mai 2024.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Ute Seifert am 24. Mai 2024.
- ↑ Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Statistische Übersichten zu Mitgliedsorganisationen im Paritätischen 1981-2001.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Ute Seifert am 24. Mai 2024.
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