Ein Einschnitt im „kulturellen Gedächtnis der Organisation“: Die Krise und Umstrukturierung des Paritätischen in Bayern
Zu Beginn der 1990er Jahre steht der Paritätische in Bayern vor einem finanziellen Scherbenhaufen. Die Strukturen des Verbands müssen angepasst werden – bevor es zu spät ist.
Das Ende einer Ära
Zum Jahresende 1988 geht Bernhard Uffrecht in den Ruhestand. 24 Jahre lang war er Geschäftsführer des Paritätischen in Bayern. In dieser Zeit hat er den Verband geprägt. Der ist stark gewachsen, seitdem er 1948 wiedergegründet wurde. 1988 sind über 550 Organisationen Mitglied im Paritätischen in Bayern.[1] Viele davon sind kleine Vereine, die aus der Selbsthilfebewegung entstanden sind. Bernhard Uffrecht war lange das Gesicht und die Stimme des Verbands. Er hat ihn nach innen zusammengehalten und nach außen vertreten. Andrea Müller-Stoy, Referentin für Frauen und Familie im Paritätischen in Bayern, wird sich später erinnern: „Herr Uffrecht hatte Charisma. Er hat uns durch seine Ideen beflügelt und uns dann in der Umsetzung unterstützt.“[2]
Eine der Besonderheiten von Bernhard Uffrecht: Er verbindet den sozialpolitischen Blick mit einem Auge auf das Geld. Bald zeigt sich: So jemanden findet man nicht alle Tage. Deswegen hat der Paritätische in Bayern jetzt ständig wechselnde Geschäftsführer. Ehrenamtlicher Vorsitzender des Verbands ist seit 1975 Klaus Zeitler. Er ist SPD-Politiker und Oberbürgermeister von Würzburg. Das bedeutet: Er ist nicht oft in München. Von hier aus wird der Paritätische in Bayern zentral verwaltet. Klaus Zeitler ist als Vorsitzender kaum präsent.[3] Ohne Bernhard Uffrecht hat der Paritätische in Bayern – zum ersten Mal seit Jahrzehnten – keine stark präsente Führungsfigur.
Finanzielle Nöte
Es wird unruhig im Verband. Das liegt auch daran, dass der Paritätische in Bayern immer mehr in Geldnot gerät. Das fällt auch den anderen Wohlfahrtsverbänden auf. Wilfried Mück arbeitet ab 1992 beim Landes-Caritasverband Bayern. Rückblickend wird er sagen: „Man hat das mitbekommen, weil immer wieder vor allen Dingen kleinere Einrichtungen in Schwierigkeiten geraten sind, weil ihnen das Polster von Rücklagen gefehlt hat, die zur Verfügung stehen. Da haben sich konfessionelle Verbände leichter getan, weil die jeweilige Kirche im Hintergrund gestanden ist, oder auch bei anderen Verbänden eine relativ hohe Mitgliederzahl, also Einzelpersonen, zahlende Mitglieder.“[4] All das hat der Paritätische in Bayern nicht.
Seit 1990 hat der Paritätische in Bayern aber wieder einen charismatischen und tatkräftigen Mann an seiner Spitze: Alexander Eberth hat Klaus Zeitler als Vorstandsvorsitzenden abgelöst. Er verkörpert mit seiner Person den Willen des Verbandes, engagiert und hartnäckig Sozialpolitik in Bayern mitzugestalten und sich aktuellen sozialen Problem zu stellen. Als Vorsitzender trifft Alexander Eberth aber auch viele Entscheidungen, die finanziell riskant sind. Er schließt Verträge ab, die den Verband am Ende viel Geld kosten.[5] Die Mitarbeitenden in der Geschäftsstelle erleben ihn als „wenig greifbar“: Vieles macht er im Alleingang[6]
In der Verwaltung gibt es bald einen Einstellungsstopp.[7] Einzelne Stellen werden darüber hinaus gestrichen. Andrea Müller-Stoy ist Landesfachreferentin für Frauen und Familie im Paritätischen in Bayern. Sie wird später berichten: „Auch unser Referentenkreis, wir vier oder fünf Referenten und Referentinnen, die wir waren, konnten vom Paritätischen nicht weiter finanziert werden. Ein Teil von uns wurde dann in die Einrichtungen versetzt. Ich übernahm die Geschäftsführung der Frauenhaus München GmbH in Teilzeit und führte, ebenfalls in Teilzeit, das Landesfachreferat Frauenfragen und Frauenpolitik weiter, weil das Thema Frauen weiterhin von den Vorstandsfrauen als notwendig erachtet wurde.“[8] Andrea Müller-Stoy hat Glück: Sie ist verheiratet, ihre Kinder sind schon groß. Trotz finanzieller Einbußen kann es sich deshalb leisten, weiter für den Verband zu arbeiten.
Eine Strukturkommission und ein neuer Vorsitzender
1999 steht der Paritätische in Bayern vor einem Defizit von 1,7 Millionen Mark.[9] „Es war Chaos“, wird Andrea Müller-Stoy später sagen. „Der Verband zerfiel eigentlich und brauchte neue Strukturen“.[10] Das sehen jetzt viele so: Bei der Mitgliederversammlung 1999 wird der Antrag gestellt, eine Strukturkommission einzurichten. Die soll herausfinden, wie man die Probleme des Verbands lösen kann. Der Antrag wird angenommen. Eine der Antragstellenden ist Antje Krüger vom FrauenTherapieZentrum in München. Diese Mitgliedseinrichtung des Paritätischen in Bayern ist – genau wie der Verband – mit der Zeit immer größer geworden. Teile der Einrichtung werden deshalb jetzt von einer ehrenamtlichen Struktur in eine GmbH überführt, um sich den veränderten Umständen anzupassen.[11] So etwas soll auch mit dem Paritätischen in Bayern passieren. Antje Krüger wird Vorsitzende der Strukturkommission.[12]
Bald gibt es noch eine große Veränderung: Alexander Eberth wird nach 9 Jahren nicht wieder zum Vorsitzenden gewählt. Der neue Vorsitzende des Paritätischen in Bayern heißt Heinz-Dieter Zimmermann. Der ist kein Unbekannter. Gabriele Krommer, langjährige Sekretärin der Geschäftsführung des Verbands, wird sich später erinnern: „Man kannte ihn. Er war Geschäftsführer vom Studentenwerk in Erlangen/Nürnberg und er war lange Zeit im Beirat vom Paritätischen. Zu den Haushalten musste ja immer der Beirat eine Empfehlung abgeben und diese Kommission hat immer der Herr Zimmermann geleitet. Da wurde jemand gewählt, denke ich, der im finanziellen Bereich den Verband wieder nach oben führt.“[13] Diese Hoffnung teilen viele. Das Vertrauen in Heinz-Dieter Zimmermann ist groß.[14]
Die Arbeit der Strukturkommission
Die Strukturkommission beschließt schnell: Die eigenen Einrichtungen des Verbands müssen in GmbHs ausgegliedert werden.[15] Außerdem sieht sich die Kommission die Bezirksverbände näher an: Manche von ihnen verlieren mehr Mitglieder, als sie dazugewinnen.[16] Im Jahr 2000 stehen fast alle Bezirksverbände im Minus.[17] Die Strukturkommission überlegt deshalb, Bezirksverbände zusammenzulegen und die Berichtspflicht zu verschärfen. Die Bezirksverbände sind dagegen.[18] Sie wollen eine größere finanzielle Eigenständigkeit. Zwischen der Strukturkommission und den Bezirksverbänden entstehen tiefe Gräben.[19]
Das wichtigste Ergebnis der Strukturkommission: Es soll keinen ehrenamtlichen Vorstand mehr geben. Die Führung des Verbands sollen zwei hauptamtliche geschäftsführende Vorstände als Entscheidungsträger*innen übernehmen. Die Aufsichtsratsfunktion bekommt ein ehrenamtlicher Verbandsrat. Der soll auch vermehrt aus externen Personen bestehen, zum Beispiel aus den Bereichen Wissenschaft, Politik oder Wirtschaft. Nach knapp eineinhalb Jahren Arbeit stellt die Strukturkommission ihre Ergebnisse im Herbst 2001 auf einer Mitgliederversammlung vor. Die Vorschläge werden abgelehnt.[20]
Die Bank schaltet sich ein
Jetzt stellt die Bank Forderungen an den Paritätischen in Bayern: Sie verlangt ein unabhängiges Wirtschaftsgutachten. So entsteht die „Task-Force“ aus Mitarbeitenden des Wirtschaftsprüfungsunternehmens KPMG und des Paritätischen in Bayern. Die Lage ist ernst: „Eine erneute Chance wird es nicht geben“, heißt es.[21] Auch in Frankfurt am Main hört man jetzt von den Problemen in Bayern. Ulrich Schneider, der Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbands, wird sich später erinnern: „Erfahren habe ich davon durch unseren Finanzdirektor. Der war damals auch im Aufsichtsrat der Bank für Sozialwirtschaft und hatte in dieser Eigenschaft davon erfahren. Im Aufsichtsrat bekommt man mit, wenn große Kunden in Schwierigkeiten sind. Der hat dann gleich mit dem Landesverband Kontakt aufgenommen und sich die Erlaubnis geholt, dass er mir davon berichten darf.“[22] So führt die Krise des Paritätischen in Bayern auch zu bundesweiten Veränderungen: „Wir hatten vorher von Bayern keine Signale erhalten. Wir kriegten die ersten Signale von der Bank. Nach diesem Erlebnis hat der gesamte Verband ein gemeinsames Risikomanagement eingeführt.“[23]
KPMG kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie die Strukturkommission. Nur die Zusammenlegung von Bezirksverbänden ist vom Tisch.[24] Am 21. Juni 2002 sollen die Veränderungen auf einer Mitgliederversammlung beschlossen werden. Auch Ulrich Schneider reist an. Er soll schlichten, falls es hitzige Diskussionen gibt. Die gibt es aber nicht mehr. Die Umstrukturierung kann beginnen.[25]
Das Schlimmste ist überstanden
Bald tritt endlich Ruhe ein. Der Paritätische in Bayern hat mit einem Kraftakt die Insolvenz verhindert. Der Verband kann sich finanziell festigen. Dafür sorgt unter anderem ein von KPMG betriebenes Finanzcontrolling. Das empfinden viele Mitarbeitende noch einige Zeit als „Fremdkörper“.[26] Auch in der neuen Struktur des Verbands läuft nicht alles sofort reibungslos: Im Verbandsrat sitzen unter anderem Geschäftsführende von großen Sozialunternehmen. Die sind es gewohnt, in ihren eigenen Unternehmen den Ton anzugeben. Dass im Paritätischen in Bayern zwei Vorstände das Geschäft verantworten und nicht an die Weisung des Verbandsrats gebunden sind, ist für viele nicht leicht zu akzeptieren. Es muss immer wieder neu vermittelt werden.[27]
Die Krise und Umstrukturierung des Paritätischen in Bayern ist „eine Zäsur mit Wirkung auf das kulturelle Gedächtnis der Organisation“.[28] Über Jahre hält sich eine „Grundangst“, Referate oder Bezirksverbände könnten bei Schwierigkeiten geschlossen werden.[29] Auch Menschen, die erst nach der Krise zum Verband stoßen, hören von ihr.[30]
Mit dem hauptamtlichen Vorstand hat der Paritätische in Bayern jetzt eine Doppelspitze: Je eine Person kümmert sich um Verbands- und Sozialpolitik und um Wirtschaft und Finanzen. Das gibt dem Verband wieder Profil. Mit den eigenen GmbHs kann sich der Paritätische in Bayern auf neue Weise als Anbieter sozialer Dienstleistungen positionieren.
Quellen
[genaue Angaben müssen z.T. überarbeitet werden]
Quellen:
- Archiv des Paritätischen in Bayern, Kostenstellen Bezirksverbände für 2000 und 2001, o.D.
- Archiv des Paritätischen in Bayern, Erika Simm an den Paritätischen in Bayern, Resolution des Bezirksausschusses des Bezirksverbands Ndb./Opf. des Paritätischen, 11.4.2002.
- Archiv des Paritätischen in Bayern, Heinz-Dieter Zimmermann an die Mitgliedsorganisationen.
- Archiv des Paritätischen in Bayern, Satzungsänderung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Landesverband Bayern e.V., Entwurf des Vorstands, 23.4.2002.
- Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Broschüre „DPWV Bayern Information: Partner in freier, sozialer Arbeit“, November 1988.
- Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Jahresbericht des Bezirksverbands Oberbayern 1999/2000, 2.10.2000.
- Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Ziele des Bezirksausschusses Oberbayern, 2.10.2000.
- Mittler, Dietrich: Eberth als DPWV-Vorsitzender abgewählt. In: Süddeutsche Zeitung, 27.11.1999, S. 63.
- Zeitzeuginnengespräch mit Margit Berndl am 28. September 2023.
- Zeitzeugengespräch mit Klaus Cardocus am 26. Januar 2024.
- Zeitzeuginnengespräch mit Polina Hilsenbeck am 3. April 2024.
- Zeitzeuginnengespräch mit Gabriele Krommer am 29. Januar 2024.
- Zeitzeuginnengespräch mit Antje Krüger am 18. Dezember 2023.
- Zeitzeugengespräch mit Wilfried Mück am 21. März 2024.
- Zeitzeuginnengespräch mit Andrea Müller-Stoy am 20. März 2024.
- Zeitzeugengespräch mit Ulrich Schneider am 9. Januar 2024.
- Zeitzeugengespräch mit Michael Wächter am 28. September 2023.
- Zeitzeuginnengespräch mit Christa Weigl-Schneider am 22. März 2024.
Einzelnachweise
[genaue Angaben müssen z.T. überarbeitet werden]
- ↑ Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Broschüre „DPWV Bayern Information: Partner in freier, sozialer Arbeit“, November 1988.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Andrea Müller-Stoy am 20. März 2024.
- ↑ Zeitzeug*innengespräche mit Gabriele Krommer am 29. Januar 2024 und Klaus Cardocus am 26. Januar 2024.
- ↑ Zeitzeugengespräch mit Wilfried Mück am 21. März 2024.
- ↑ Vgl. Mittler, Dietrich: Eberth als DPWV-Vorsitzender abgewählt. In: Süddeutsche Zeitung, 27.11.1999, S. 63.
- ↑ Zeitzeugengespräch mit Klaus Cardocus.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Gabriele Krommer.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Andrea Müller-Stoy am 20. März 2024.
- ↑ Vgl. O.A.: Gleichbehandlung durch Bezirke gefordert. In: Main Post, 25.11.2000, o. S.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Andrea Müller-Stoy am 20. März 2024.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Polina Hilsenbeck am 3. April 2024.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Antje Krüger am 18. Dezember 2023.
- ↑ Zeitzeug*innengespräche mit Gabriele Krommer.
- ↑ Zeitzeugengespräch mit Klaus Cardocus am 26. Januar 2024.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Antje Krüger am 18. Dezember 2023.
- ↑ Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Jahresbericht des Bezirksverbands Oberbayern 1999/2000, 2.10.2000.
- ↑ Archiv des Paritätischen in Bayern, Kostenstellen Bezirksverbände für 2000 und 2001, o.D.
- ↑ Archiv des Paritätischen in Bayern, Erika Simm an den Paritätischen in Bayern, Resolution des Bezirksausschusses des Bezirksverbands Ndb./Opf. des Paritätischen, 11.4.2002.
- ↑ Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Ziele des Bezirksausschusses Oberbayern, 2.10.2000.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Antje Krüger am 18. Dezember 2023.
- ↑ Archiv des Paritätischen in Bayern, Heinz-Dieter Zimmermann an die Mitgliedsorganisationen.
- ↑ Zeitzeugengespräch mit Ulrich Schneider am 9. Januar 2024.
- ↑ Ebd.
- ↑ Archiv des Paritätischen in Bayern, Satzungsänderung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Landesverband Bayern e.V., Entwurf des Vorstands, 23.4.2002.
- ↑ Vgl. u.a. Zeitzeugengespräch mit Ulrich Schneider am 9. Januar 2024.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Antje Krüger am 18. Dezember 2023.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Christa Weigl-Schneider am 22. März 2024.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Margit Berndl am 28. September 2023.
- ↑ Ebd.
- ↑ Zeitzeugengespräch mit Michael Wächter am 28. September 2023.
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