Schutzräume statt Vanillepudding: Die Neue Frauenbewegung im Paritätischen in Bayern

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In den 1970er Jahren entsteht in der Bundesrepublik die sogenannte Neue Frauenbewegung. Im Paritätischen in Bayern findet sie einen wichtigen Unterstützer, besonders beim Kampf um Schutzräume für von Gewalt bedrohte Frauen. Der Verband, der in der bürgerlichen Frauenbewegung der Weimarer Republik entstanden ist, findet so zu seinen Wurzeln zurück.

Eine neue Frauenbewegung entsteht

Als Polina Hilsenbeck 1970 in München ihr Studium beginnt, wimmelt es an der Universität von Projekten von Frauen für Frauen. Bisher ist Polina Hilsenbeck keine Aktivistin. Jetzt wird sie schnell angezogen von dieser neuen Frauenbewegung – und ist bald mittendrin.[1] Seit den 1960er Jahren findet in der Bundesrepublik eine Veränderung statt: Viele Menschen realisieren, dass sie mit ihren Gedanken nicht allein sind. Sie organisieren sich und wollen gemeinsam gesellschaftlich etwas verändern.[2]

Früher haben Frauen für Bildung und Wahlrecht gekämpft. In diesem Umfeld ist in den 1920er Jahren der Paritätische in Bayern entstanden. Seitdem hat sich viel verändert: Im Grundgesetz ist jetzt die Gleichberechtigung von Frauen und Männern festgeschrieben.[3] Es ist nicht mehr ungewöhnlich, dass Frauen arbeiten gehen. Gerne gesehen wird das in Bayern aber nicht.[4] Eines ist nämlich geblieben: In erster Linie sollen Frauen Mütter sein. Auch die Angebote für Frauen im Paritätischen in Bayern richten sich vor allem an Mütter. Es gibt Müttergenesungskuren, Mütterschulen und Mutter-Kind-Heime.

„Wir brauchen ein Frauenhaus!“

Mitte der 1970er Jahre entwirft in München eine Gruppe von Frauen ein Konzept für ein Frauenhaus. Solche Häuser zum Schutz vor Gewalt gibt es schon in anderen deutschen Städten. Der Verein Frauen helfen Frauen – Aktion Frauenhaus wird gegründet und sammelt Unterschriften, damit die Stadt München das Projekt finanziert. Das Sozialreferat will aber nicht mit dem Verein zusammenarbeiten. Einen Schutzraum für Frauen, zu dem Männer keinen Zugang haben, soll es in München nicht geben.[5] Denn: Männer werden angeblich zum Schutz der Frauen gebraucht – und damit kein „Frauenghetto“ entsteht.[6]

Eine Sozialarbeiterin, die beim Sozialreferat arbeitet, startet einen Versuch: Im städtischen Mutter-Kind-Heim, das vom Paritätischen betrieben wird, werden sechs Apartments für bedrohte Frauen bereitgestellt. Öffentlich bekanntgegeben wird das nicht. Trotzdem gibt es bald viel zu viele Anfragen. Jetzt ist klar: München braucht tatsächlich ein Frauenhaus.[7]

Die Mitarbeiterin des Sozialreferats kontaktiert den Verein für Fraueninteressen. Der ist dazu bereit, die Trägerschaft eines Frauenhauses zu übernehmen. Aber das Projekt ist brisant. Deswegen soll es möglichst lange geheim gehalten werden. Mit der radikalen Frauenbewegung soll es nichts zu tun haben.[8] Im April 1978 eröffnet die Einrichtung unter dem Namen Frauenhilfe München.[9] Die Frauenhilfe will „Männer und Frauen [da]zu animieren, ihre Partnerschaft zu überdenken“.[10] Deshalb haben auch die Partner, vor denen die Frauen geflüchtet sind, Zugang zum Haus. Dieser Ansatz wird „familienbezogen“ genannt.[11] Die Frauenhaus-Initativen sind entsetzt: „Für uns Mitarbeiterinnen im ‚feministischen Frauenhaus‘ sind Prügelmänner keine Partner. [...] Unsere Solidarität gilt nur den geschlagenen Frauen. Wir verstehen uns nicht als Klempnerinnen für frauenunterdrückende Familien“, sagen sie.[12]

Trotz großer Hürden: Unterstützung auch für autonome Frauenhäuser

Anfang des Jahres 1979 wird die erste Frauenhaus-Initiative Mitglied im Paritätischen in Bayern. Es ist der Verein Hilfe für Frauen in Not aus Nürnberg.[13] In den folgenden Monaten kommen Gruppen aus Erlangen, München, Würzburg, Schweinfurt und Ingolstadt dazu. Es gibt keine Regelung zur öffentlichen Finanzierung von Frauenhäusern. Deshalb müssen die Gruppen einem Wohlfahrtsverband beitreten. Das vergrößert ihre Chancen, Gelder zu bekommen.[14] Die brauchen sie dringend: Das Frauenhaus des Vereins Frauen helfen Frauen aus Regensburg besteht aus einer Mietwohnung mit zweieinhalb Zimmern.[15] Die Frauenhaus-Initiative in Erlangen hat zwar ein Haus, aber auch das hat nur zweieinhalb Zimmer. Küche, Bad und Heizung gibt es nicht. Trotzdem ist der Andrang groß.[16]

Bernhard Uffrecht, der Geschäftsführer des Paritätischen in Bayern, will die autonomen Frauenhäuser unterstützen. Die meisten anderen Wohlfahrtsverbände lehnen sie ab. Auch auf Bernhard Uffrecht wirken die Frauenhaus-Initiativen befremdlich. Die Frauen treten ungewohnt auf: Sie sind oft ganz in Schwarz gekleidet, als „Symbol für die Situation von Frauen in Gewaltsituationen.“[17] Bernhard Uffrecht braucht eine Vermittlerin. Er entscheidet sich für die Sozialpädagogin Andrea Müller-Stoy. Die wird 1980 zur ersten Referentin für Frauen und Familie im Paritätischen in Bayern. „Das war damals ein Novum, gerade das Thema Frauen in den Vordergrund zu stellen“, wird sie sich später erinnern.[18]

Harter Kampf um Anerkennung

Die neue Referentin soll sich um die Unterstützung der Frauenhäuser kümmern. Bernhard Uffrecht lässt ihr freie Hand. Trotzdem ist es keine leichte Aufgabe. Das wird Andrea Müller-Stoy klar, als sie mit einer Mitarbeiterin des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung nach Schweinfurt unterwegs ist – zum autonomen Frauenhaus. Das hat sich beim Ministerium um Förderung beworben. Im Auto unterhalten sich die beiden Frauen über häusliche Gewalt. Die Mitarbeiterin des Ministeriums ist sich sicher: „Wenn die Frauen sich abends hübsch machen würden, wenn der Mann nach Hause kommt, einen Vanillepudding kochen würden und ihrem Mann schön eindecken, dann würde er sie auch nicht schlagen!“[19]

Der Paritätische in Bayern ist bald der Verband, in dem die meisten Frauenhäuser Bayerns organisiert sind. Er unterstützt sie im Kampf um Anerkennung und Finanzierung. Das Bayerische Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung will den Frauenhäusern „unzumutbare Bedingungen“ auferlegen: Bewohnerinnen sollen zum Beispiel für das Frauenhaus bezahlen müssen. Ihr Aufenthalt soll zeitlich begrenzt werden – so wie in der Frauenhilfe München. Als die autonomen Frauenhäuser 1985 eine Resolution mit Gegenforderungen veröffentlichen, unterstützt sie der Paritätische in Bayern. Er gibt eine eigene Pressemitteilung heraus, in der er die Forderungen wiederholt.[20]

Die Neue Frauenbewegung – fest verankert im Paritätischen in Bayern

In den 1980er Jahren werden viele Projekte Mitglied im Paritätischen in Bayern, die in der Neuen Frauenbewegung entstanden sind. Wie die Frauenhäuser zielen sie oft darauf ab, Frauen bei einer Trennung zu unterstützen und zu beraten. Andere Projekte konzentrieren sich auf die Gesundheit von Frauen. Dazu gehört das FrauenTherapieZentrum, das Polina Hilsenbeck inzwischen mit anderen Frauen gegründet hat.

Die Frauenhilfe München ist ab 1987 eine direkte Tochtergesellschaft des Paritätischen in Bayern. Sie bekommt ein neues Konzept und übernimmt die Bezeichnung „Frauenhaus“.[21] Margit Berndl, die jahrelang Geschäftsführerin der Frauenhilfe ist, wird später zum Vorstand für Verbands- und Sozialpolitik gewählt werden. Auch andere Frauen aus der Neuen Frauenbewegung werden wichtige Positionen im Verband einnehmen. Die Neue Frauenbewegung ist fest im Paritätischen in Bayern verankert. Auch die Gleichstellung von Frauen und Männern innerhalb der eigenen Strukturen nimmt der Verband bald stärker in den Blick. Der Paritätische in Bayern wird zu einem wichtigen Motor, der auch andere Wohlfahrtsverbände dazu antreibt, sich stärker für die Rechte von Frauen einzusetzen und ihre Projekte zu unterstützen.[22]

Quellen und Literatur

Quellen:
Literatur:

Einzelnachweise

  1. Zeitzeuginnengespräch mit Polina Hilsenbeck am 3. April 2024.
  2. Vgl. Rucht, Dieter: Neue Soziale Bewegungen, in: Andersen, Uwe/Woyke, Wichard (Hg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 2021.
  3. Vgl. Zellmer, Elisabeth: Töchter der Revolte? Frauenbewegung und Feminismus der 1970er Jahre in München, München 2011, S. 13—15.
  4. Vgl. Kuller, Christiane: „Stiefkind der Gesellschaft" oder „Trägerin der Erneuerung"? Familien und Familienpolitik in Bayern 1945 bis 1974, in: Schlemmer, Thomas/Woller, Hans: Gesellschaft im Wandel 1949 bis 1973. Bayern im Bund Bd. 2, München 2002, S. 293.
  5. Vgl. Reinhardt, Gabriele/Stotz, Sibylle: 40 Jahre Frauenhaus München 1977-2017, München 2017, S. 5 f.
  6. Willkop, Lydia: Ein Männerhaus für geschlagene Frauen!, in: EMMA (1977) Heft 9, S. 37.
  7. Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung des Vereins für Fraueninteressen und Frauenarbeit e.V., 5.5.1977.
  8. Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung des Vereins für Fraueninteressen und Frauenarbeit e.V., 27.10.1977.
  9. Vgl. Verein für Fraueninteressen (Hg.): 100 Jahre Verein für Fraueninteressen, München 1994, S. 77.
  10. Zitiert nach: Frauen helfen Frauen e.V. München (Hg.): 40 Jahre Frauenhaus München 1977—2017, München 2017, S. 7.
  11. Vgl. ED 898/ 327, Frauenhilfe – Frauenhaus XXXXIII, 1984-1985, Pressemitteilung [des DPWV Landesverband Bayern e.V.] 13.12.1985.
  12. O. A.: Wir brauchen ein Frauenhaus für mißhandelte Frauen, in: münchner frauenzeitung (1979) Heft 3, S. 3.
  13. O. A.: Neuaufnahmen, in: DPWV-Nachrichten (1979) Heft 1/2, S. 17.
  14. Zeitzeuginnengespräch mit Andrea Müller-Stoy am 20. März 2024.
  15. Vgl. Chronologie des Vereins frauen helfen frauen e. V., in: https://www.frauenhaus-regensburg.de/verein/chronologie-und-finanzierung (aufgerufen: 5.4.2024).
  16. Vgl. Entwicklung autonomes Frauenhaus Erlangen, in: https://frauenhaus-erlangen.de/selbstverstaendnis-autonomie (aufgerufen: 5.4.2024).
  17. Zeitzeuginnengespräch mit Andrea Müller-Stoy am 20. März 2024.
  18. Ebd.
  19. Zeitzeuginnengespräch mit Andrea Müller-Stoy am 20. März 2024.
  20. ED 898/ 327, Frauenhilfe – Frauenhaus XXXXIII, 1984-1985, Pressemitteilung [des DPWV Landesverband Bayern e.V.] 13.12.1985.
  21. Vgl. Verein für Fraueninteressen (Hg.): 100 Jahre Verein für Fraueninteressen, München 1994, S. 78.
  22. Zeitzeugengespräch mit Wilfried Mück am 21. März 2024.

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