Ein Einschnitt im „kulturellen Gedächtnis der Organisation“: Die Krise und Umstrukturierung des Paritätischen in Bayern: Unterschied zwischen den Versionen
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Zum Jahresende 1988 geht [[Für mehr Gemeinsinn und Sichtbarkeit: Bernhard Uffrecht|Bernhard Uffrecht]] in den Ruhestand. 24 Jahre lang war er Geschäftsführer des Paritätischen in Bayern. In dieser Zeit hat er den Verband geprägt. Der ist stark gewachsen, seitdem er in den späten 1940er Jahren [[„Jetzt gibt es keine Fraueninteressen, jetzt gibt es nur eine gemeinsame Not“: Die Wiedergründung des Paritätischen in Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg|wiedergegründet]] wurde. Über 550 Organisationen sind Mitglied im Paritätischen in Bayern. Viele davon sind kleine Vereine, die aus der [[Eine wechselvolle Geschichte: Selbsthilfe im Paritätischen in Bayern|Selbsthilfebewegung]] entstanden sind. Bernhard Uffrecht war lange das Gesicht und die Stimme des Verbands. Er hat ihn nach innen zusammengehalten und nach außen vertreten. Andrea Müller-Stoy, Referentin für Frauen und Familie im Paritätischen in Bayern, wird sich später erinnern: „Herr Uffrecht hatte Charisma. Er hat uns durch seine Ideen beflügelt und uns dann in der Umsetzung unterstützt.“ | Zum Jahresende 1988 geht [[Für mehr Gemeinsinn und Sichtbarkeit: Bernhard Uffrecht|Bernhard Uffrecht]] in den Ruhestand. 24 Jahre lang war er Geschäftsführer des Paritätischen in Bayern. In dieser Zeit hat er den Verband geprägt. Der ist stark gewachsen, seitdem er in den späten 1940er Jahren [[„Jetzt gibt es keine Fraueninteressen, jetzt gibt es nur eine gemeinsame Not“: Die Wiedergründung des Paritätischen in Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg|wiedergegründet]] wurde. Über 550 Organisationen sind Mitglied im Paritätischen in Bayern.<ref>Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Broschüre „DPWV Bayern Information: Partner in freier, sozialer Arbeit“, November 1988.</ref> Viele davon sind kleine Vereine, die aus der [[Eine wechselvolle Geschichte: Selbsthilfe im Paritätischen in Bayern|Selbsthilfebewegung]] entstanden sind. Bernhard Uffrecht war lange das Gesicht und die Stimme des Verbands. Er hat ihn nach innen zusammengehalten und nach außen vertreten. Andrea Müller-Stoy, Referentin für Frauen und Familie im Paritätischen in Bayern, wird sich später erinnern: „Herr Uffrecht hatte Charisma. Er hat uns durch seine Ideen beflügelt und uns dann in der Umsetzung unterstützt.“<ref>Zeitzeuginnengespräch mit Andrea Müller-Stoy am 20. März 2024.</ref> | ||
Eine der Besonderheiten von Bernhard Uffrecht: Er verbindet den sozialpolitischen Blick mit einem Auge auf das Geld. Bald zeigt sich: So jemanden findet man nicht alle Tage. Deswegen hat der Paritätische in Bayern jetzt ständig wechselnde Geschäftsführer. Ehrenamtlicher Vorsitzender des Verbands ist seit 1975 Klaus Zeitler. Er ist SPD-Politiker und Oberbürgermeister von Würzburg. Das bedeutet: Er ist nicht oft in München. Von hier aus wird der Paritätische in Bayern zentral verwaltet. Klaus Zeitler ist als Vorsitzender kaum präsent. Ohne Bernhard Uffrecht hat der Paritätische in Bayern – zum ersten Mal seit Jahrzehnten – keine Führungsfigur. | Eine der Besonderheiten von Bernhard Uffrecht: Er verbindet den sozialpolitischen Blick mit einem Auge auf das Geld. Bald zeigt sich: So jemanden findet man nicht alle Tage. Deswegen hat der Paritätische in Bayern jetzt ständig wechselnde Geschäftsführer. Ehrenamtlicher Vorsitzender des Verbands ist seit 1975 Klaus Zeitler. Er ist SPD-Politiker und Oberbürgermeister von Würzburg. Das bedeutet: Er ist nicht oft in München. Von hier aus wird der Paritätische in Bayern zentral verwaltet. Klaus Zeitler ist als Vorsitzender kaum präsent.<ref>Zeitzeug*innengespräche mit Gabriele Krommer am 29. Januar 2024 und Klaus Cardocus am 26. Januar 2024.</ref> Ohne Bernhard Uffrecht hat der Paritätische in Bayern – zum ersten Mal seit Jahrzehnten – keine Führungsfigur. | ||
==Finanzielle Nöte== | ==Finanzielle Nöte== | ||
Es wird unruhig im Verband. Das liegt auch daran, dass der Paritätische in Bayern immer mehr in Geldnot gerät. Das fällt auch den anderen Wohlfahrtsverbänden auf. Wilfried Mück arbeitet ab 1992 beim Landes-Caritasverband Bayern. Rückblickend wird er sagen: „Man hat das mitbekommen, weil immer wieder vor allen Dingen kleinere Einrichtungen in Schwierigkeiten geraten sind, weil ihnen das Polster von Rücklagen gefehlt hat, die zur Verfügung stehen. Da haben sich konfessionelle Verbände leichter getan, weil die jeweilige Kirche im Hintergrund gestanden ist, oder auch bei anderen Verbänden eine relativ hohe Mitgliederzahl, also Einzelpersonen, zahlende Mitglieder.“ All das hat der Paritätische in Bayern nicht. | Es wird unruhig im Verband. Das liegt auch daran, dass der Paritätische in Bayern immer mehr in Geldnot gerät. Das fällt auch den anderen Wohlfahrtsverbänden auf. Wilfried Mück arbeitet ab 1992 beim Landes-Caritasverband Bayern. Rückblickend wird er sagen: „Man hat das mitbekommen, weil immer wieder vor allen Dingen kleinere Einrichtungen in Schwierigkeiten geraten sind, weil ihnen das Polster von Rücklagen gefehlt hat, die zur Verfügung stehen. Da haben sich konfessionelle Verbände leichter getan, weil die jeweilige Kirche im Hintergrund gestanden ist, oder auch bei anderen Verbänden eine relativ hohe Mitgliederzahl, also Einzelpersonen, zahlende Mitglieder.“<ref>Zeitzeugengespräch mit Wilfried Mück am 21. März 2024.</ref> All das hat der Paritätische in Bayern nicht. | ||
Seit 1990 hat der Paritätische in Bayern aber wieder einen charismatischen Mann an seiner Spitze: [[Aus der Drogenhilfe zum Verbandsvorsitzenden: Alexander Eberth|Alexander Eberth]] hat Klaus Zeitler als Verbandsvorsitzenden abgelöst. Das war eine Überraschung. Als Vorsitzender trifft Alexander Eberth viele Entscheidungen, die finanziell riskant sind. Er schließt Verträge ab, die den Verband viel Geld kosten. Die Mitarbeitenden in der Geschäftsstelle erleben ihn als „wenig greifbar“: Vieles macht er im Alleingang. Es gibt weiterhin immer wieder neue Geschäftsführer. | Seit 1990 hat der Paritätische in Bayern aber wieder einen charismatischen Mann an seiner Spitze: [[Aus der Drogenhilfe zum Verbandsvorsitzenden: Alexander Eberth|Alexander Eberth]] hat Klaus Zeitler als Verbandsvorsitzenden abgelöst. Das war eine Überraschung.<ref>Zeitzeuginnengespräch mit Gabriele Krommer.</ref> Als Vorsitzender trifft Alexander Eberth viele Entscheidungen, die finanziell riskant sind. Er schließt Verträge ab, die den Verband viel Geld kosten.<ref>Vgl. Mittler, Dietrich: Eberth als DPWV-Vorsitzender abgewählt. In: Süddeutsche Zeitung, 27.11.1999, S. 63.</ref> Die Mitarbeitenden in der Geschäftsstelle erleben ihn als „wenig greifbar“: Vieles macht er im Alleingang.<ref>Zeitzeugengespräch mit Klaus Cardocus.</ref> Es gibt weiterhin immer wieder neue Geschäftsführer. | ||
In der Verwaltung gibt es bald einen Einstellungsstopp. | In der Verwaltung gibt es bald einen Einstellungsstopp.<ref>Zeitzeuginnengespräch mit Gabriele Krommer.</ref> Viele Stellen werden gestrichen. Andrea Müller-Stoy ist Referentin für Frauen und Familie im Paritätischen in Bayern. Sie wird später berichten: „Auch unser Referentenkreis, wir vier oder fünf Referenten und Referentinnen, die wir waren, konnten vom Paritätischen nicht weiter finanziert werden. Ein Teil von uns wurde dann in die Einrichtungen versetzt. Ich bekam die Geschäftsführung der [[Schutzräume statt Vanillepudding: Die Neue Frauenbewegung im Paritätischen in Bayern|''Frauenhilfe München'']] in Teilzeit und in Teilzeit war ich noch im Landesverband, weil das Thema Frauen weiterhin von den Vorstandsfrauen als notwendig erachtet wurde.“<ref>Zeitzeuginnengespräch mit Andrea Müller-Stoy am 20. März 2024.</ref> Andrea Müller-Stoy hat Glück: Sie ist verheiratet, ihre Kinder sind schon groß. Sie kann es sich leisten, weiter für den Verband zu arbeiten. Für sie ist es „ein Stück Ehrenamt. [...] Aber diese Verbundenheit und der Austausch auf Landesebene war damit zerstört. Die Identifikation mit dem Verband von uns allen war brüchig geworden.“<ref>Zeitzeuginnengespräch mit Andrea Müller-Stoy am 20. März 2024.</ref> | ||
==Eine Strukturkommission und ein neuer Vorsitzender== | ==Eine Strukturkommission und ein neuer Vorsitzender== |
Version vom 6. Juni 2024, 17:51 Uhr
Zu Beginn der 1990er Jahre steht der Paritätische in Bayern vor einem finanziellen Scherbenhaufen. Die Strukturen des Verbands müssen angepasst werden – bevor es zu spät ist. Vielen Menschen wird diese turbulente Zeit im Gedächtnis bleiben.
Das Ende einer Ära
Zum Jahresende 1988 geht Bernhard Uffrecht in den Ruhestand. 24 Jahre lang war er Geschäftsführer des Paritätischen in Bayern. In dieser Zeit hat er den Verband geprägt. Der ist stark gewachsen, seitdem er in den späten 1940er Jahren wiedergegründet wurde. Über 550 Organisationen sind Mitglied im Paritätischen in Bayern.[1] Viele davon sind kleine Vereine, die aus der Selbsthilfebewegung entstanden sind. Bernhard Uffrecht war lange das Gesicht und die Stimme des Verbands. Er hat ihn nach innen zusammengehalten und nach außen vertreten. Andrea Müller-Stoy, Referentin für Frauen und Familie im Paritätischen in Bayern, wird sich später erinnern: „Herr Uffrecht hatte Charisma. Er hat uns durch seine Ideen beflügelt und uns dann in der Umsetzung unterstützt.“[2]
Eine der Besonderheiten von Bernhard Uffrecht: Er verbindet den sozialpolitischen Blick mit einem Auge auf das Geld. Bald zeigt sich: So jemanden findet man nicht alle Tage. Deswegen hat der Paritätische in Bayern jetzt ständig wechselnde Geschäftsführer. Ehrenamtlicher Vorsitzender des Verbands ist seit 1975 Klaus Zeitler. Er ist SPD-Politiker und Oberbürgermeister von Würzburg. Das bedeutet: Er ist nicht oft in München. Von hier aus wird der Paritätische in Bayern zentral verwaltet. Klaus Zeitler ist als Vorsitzender kaum präsent.[3] Ohne Bernhard Uffrecht hat der Paritätische in Bayern – zum ersten Mal seit Jahrzehnten – keine Führungsfigur.
Finanzielle Nöte
Es wird unruhig im Verband. Das liegt auch daran, dass der Paritätische in Bayern immer mehr in Geldnot gerät. Das fällt auch den anderen Wohlfahrtsverbänden auf. Wilfried Mück arbeitet ab 1992 beim Landes-Caritasverband Bayern. Rückblickend wird er sagen: „Man hat das mitbekommen, weil immer wieder vor allen Dingen kleinere Einrichtungen in Schwierigkeiten geraten sind, weil ihnen das Polster von Rücklagen gefehlt hat, die zur Verfügung stehen. Da haben sich konfessionelle Verbände leichter getan, weil die jeweilige Kirche im Hintergrund gestanden ist, oder auch bei anderen Verbänden eine relativ hohe Mitgliederzahl, also Einzelpersonen, zahlende Mitglieder.“[4] All das hat der Paritätische in Bayern nicht.
Seit 1990 hat der Paritätische in Bayern aber wieder einen charismatischen Mann an seiner Spitze: Alexander Eberth hat Klaus Zeitler als Verbandsvorsitzenden abgelöst. Das war eine Überraschung.[5] Als Vorsitzender trifft Alexander Eberth viele Entscheidungen, die finanziell riskant sind. Er schließt Verträge ab, die den Verband viel Geld kosten.[6] Die Mitarbeitenden in der Geschäftsstelle erleben ihn als „wenig greifbar“: Vieles macht er im Alleingang.[7] Es gibt weiterhin immer wieder neue Geschäftsführer.
In der Verwaltung gibt es bald einen Einstellungsstopp.[8] Viele Stellen werden gestrichen. Andrea Müller-Stoy ist Referentin für Frauen und Familie im Paritätischen in Bayern. Sie wird später berichten: „Auch unser Referentenkreis, wir vier oder fünf Referenten und Referentinnen, die wir waren, konnten vom Paritätischen nicht weiter finanziert werden. Ein Teil von uns wurde dann in die Einrichtungen versetzt. Ich bekam die Geschäftsführung der Frauenhilfe München in Teilzeit und in Teilzeit war ich noch im Landesverband, weil das Thema Frauen weiterhin von den Vorstandsfrauen als notwendig erachtet wurde.“[9] Andrea Müller-Stoy hat Glück: Sie ist verheiratet, ihre Kinder sind schon groß. Sie kann es sich leisten, weiter für den Verband zu arbeiten. Für sie ist es „ein Stück Ehrenamt. [...] Aber diese Verbundenheit und der Austausch auf Landesebene war damit zerstört. Die Identifikation mit dem Verband von uns allen war brüchig geworden.“[10]
Eine Strukturkommission und ein neuer Vorsitzender
1999 steht der Paritätische in Bayern vor einem Defizit von 1,7 Millionen Mark. „Es war Chaos“, wird Andrea Müller-Stoy später sagen. „Der Verband zerfiel eigentlich und brauchte neue Strukturen“. Das sehen jetzt viele so. Auch Antje Krüger. Die hat schon das FrauenTherapieZentrum in München umstrukturiert. Diese Mitgliedseinrichtung des Paritätischen in Bayern ist – genau wie der Verband – mit der Zeit immer größer geworden. Am Ende musste die Einrichtung von einer ehrenamtlichen Struktur in eine GmbH überführt werden, um sich den veränderten Umständen anzupassen. So etwas soll jetzt auch mit dem Paritätischen in Bayern passieren.
1999 stellt Antje Krüger bei der Mitgliederversammlung gemeinsam mit anderen den Antrag, eine Strukturkommission einzurichten. Die soll herausfinden, wie man die Probleme des Verbands lösen kann. Der Antrag wird angenommen. Antje Krüger wird Vorsitzende der Strukturkommission. Bald gibt es noch eine große Veränderung: Alexander Eberth wird nach 9 Jahren nicht wieder zum Vorsitzenden gewählt. Der neue Vorsitzende des Paritätischen in Bayern heißt Heinz-Dieter Zimmermann. Der ist kein Unbekannter. Gabriele Krommer, langjährige Sekretärin der Geschäftsführung des Verbands, wird sich später erinnern: „Man kannte ihn. Er war Geschäftsführer vom Studentenwerk in Erlangen/Nürnberg und er war lange Zeit im Beirat vom Paritätischen. Zu den Haushalten musste ja immer der Beirat eine Empfehlung abgeben und diese Kommission hat immer der Herr Zimmermann geleitet. Da wurde jemand gewählt, denke ich, der im finanziellen Bereich den Verband wieder nach oben führt.“ Diese Hoffnung teilen viele. Das Vertrauen in Heinz-Dieter Zimmermann ist groß.
Die Arbeit der Strukturkommission
Die Strukturkommission beschließt schnell: Die eigenen Einrichtungen des Verbands müssen in GmbHs ausgegliedert werden. Außerdem sieht sich die Kommission die Bezirksverbände näher an: Manche von ihnen verlieren mehr Mitglieder, als sie dazugewinnen. Im Jahr 2000 stehen fast alle Bezirksverbände im Minus. Die Strukturkommission überlegt deshalb, Bezirksverbände zusammenzulegen und die Berichtspflicht zu verschärfen. Die Bezirksverbände sind dagegen. Sie wollen eine größere finanzielle Eigenständigkeit. Zwischen der Strukturkommission und den Bezirksverbänden entstehen tiefe Gräben.
Das wichtigste Ergebnis der Strukturkommission: Es soll keinen ehrenamtlichen Vorstand mehr geben, sondern einen ehrenamtlichen Verbandsrat. Der soll auch aus externen Personen bestehen, zum Beispiel Wissenschaftler*innen und Betriebswirt*innen. Zusätzlich soll es zwei hauptamtliche geschäftsführende Vorstände als Entscheidungsträger*innen geben. Nach knapp eineinhalb Jahren Arbeit stellt die Strukturkommission ihre Ergebnisse im Herbst 2001 auf einer Mitgliederversammlung vor. Die Vorschläge werden abgelehnt.
Die Bank schaltet sich ein
Jetzt stellt die Bank Forderungen an den Paritätischen in Bayern: Sie verlangt ein unabhängiges Wirtschaftsgutachten. So entsteht die „Task-Force“ aus Mitarbeitenden des Wirtschaftsprüfungsunternehmens KPMG und des Paritätischen in Bayern. Die Lage ist ernst: „Eine erneute Chance wird es nicht geben“, heißt es. Auch in Frankfurt am Main hört man jetzt von den Problemen in Bayern. Ulrich Schneider, der Vorsitzende des Paritätischen Gesamtverbands, wird sich später erinnern: „Erfahren habe ich davon durch unseren Finanzdirektor. Der war damals auch im Aufsichtsrat der Bank für Sozialwirtschaft und hatte in dieser Eigenschaft davon erfahren. Im Aufsichtsrat bekommt man mit, wenn große Kunden in Schwierigkeiten sind. Der hat dann gleich mit dem Landesverband Kontakt aufgenommen und sich die Erlaubnis geholt, dass er mir davon berichten darf.“ So führt die Krise des Paritätischen in Bayern auch zu bundesweiten Veränderungen: „Wir hatten vorher von Bayern keine Signale erhalten. Wir kriegten die ersten Signale von der Bank. Nach diesem Erlebnis hat der gesamte Verband ein gemeinsames Risikomanagement eingeführt.“
KPMG kommt zu ähnlichen Ergebnissen wie die Strukturkommission. Nur die Zusammenlegung von Bezirksverbänden ist vom Tisch. Am 21. Juni 2002 sollen die Veränderungen auf einer Mitgliederversammlung beschlossen werden. Auch Ulrich Schneider reist an. Er soll schlichten, falls es hitzige Diskussionen gibt. Aber: Alle wollen schnell nach Hause, denn es ist Fußball-WM und die deutsche Nationalmannschaft steht an diesem Abend im Viertelfinale. Ein glücklicher Zufall.
Das Schlimmste ist überstanden
Bald tritt endlich Ruhe ein. Der Paritätische in Bayern schlittert an der Insolvenz vorbei. Der Verband kann sich finanziell festigen. Dafür sorgt unter anderem ein von KPMG betriebenes Finanzcontrolling. Das empfinden viele Mitarbeitende noch einige Zeit als „Fremdkörper“. Auch in der neuen Struktur des Verbands läuft nicht alles sofort reibungslos: Im Verbandsrat sitzen unter anderem Geschäftsführende von großen Sozialunternehmen. Die sind es gewohnt, in ihren eigenen Unternehmen den Ton anzugeben. Dass im Paritätischen in Bayern zwei Vorstände das Geschäft verantworten und nicht an die Weisung des Verbandsrats gebunden sind, ist für viele nicht leicht zu akzeptieren. Es muss immer wieder neu vermittelt werden.
Die Krise und Umstrukturierung des Paritätischen in Bayern ist „eine Zäsur mit Wirkung auf das kulturelle Gedächtnis der Organisation“. Über Jahre hält sich eine „Grundangst“, Referate oder Bezirksverbände könnten bei Schwierigkeiten geschlossen werden. Auch Menschen, die erst nach der Krise zum Verband stoßen, hören von ihr.
Mit dem hauptamtlichen Vorstand hat der Paritätische in Bayern jetzt eine Doppelspitze: Je eine Person kümmert sich um Verbands- und Sozialpolitik und um Wirtschaft und Finanzen. Das gibt dem Verband wieder Profil. Mit den eigenen GmbHs kann sich der Paritätische in Bayern auf neue Weise als Anbieter sozialer Dienstleistungen positionieren.
Quellen und Literatur
Einzelnachweise
- ↑ Archiv Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband - Gesamtverband e. V., Broschüre „DPWV Bayern Information: Partner in freier, sozialer Arbeit“, November 1988.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Andrea Müller-Stoy am 20. März 2024.
- ↑ Zeitzeug*innengespräche mit Gabriele Krommer am 29. Januar 2024 und Klaus Cardocus am 26. Januar 2024.
- ↑ Zeitzeugengespräch mit Wilfried Mück am 21. März 2024.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Gabriele Krommer.
- ↑ Vgl. Mittler, Dietrich: Eberth als DPWV-Vorsitzender abgewählt. In: Süddeutsche Zeitung, 27.11.1999, S. 63.
- ↑ Zeitzeugengespräch mit Klaus Cardocus.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Gabriele Krommer.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Andrea Müller-Stoy am 20. März 2024.
- ↑ Zeitzeuginnengespräch mit Andrea Müller-Stoy am 20. März 2024.
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